Teufelsberg: Roman (German Edition)
rütteln, bis die Parfümflaschen umfielen. Seltsamerweise standen sie jetzt, sauber aufgereiht, wenn auch staubig, während ringsum alles in Trümmern lag. Wenn Lotti sich umdrehte, sah sie die Bahnhofshalle. Die Wände standen noch, aber das Dach war zerbombt. Die Stahlträger ragten wie Rippen aus einem aufgeplatzten Brustkorb.
»Sie waren also Trümmerfrau?«, begann Vosskamp das Gespräch, »eine echte Berliner Trümmerfrau? Sie waren doch nicht einmal achtzehn damals.«
»Was blieb mir übrig. Man bekam dafür die Schwerstarbeiterkarte, da bin ich wenigstens nicht verhungert. Und ich konnte Frau Hähnel was abgeben. Frau Hähnel von der Bäckerei Hähnel, das war die Tante von meinem Verlobten. Zuerst war die Lindenstraße dran, wir haben die Feuerwache frei geräumt, danach das Metropol am Nollendorfplatz. Mit den Händen. Sie glauben ja nicht, was die Haut alles aushält. Und es gab kein Fett, keine Seife. Meine Haare waren grau von dem Steinstaub, auch mein Gesicht. In der Pause sind wir nach Brennholz gegangen. Sehen Sie, mein Verlobungsring hat eine Beule, und die Steine fehlen.«
Sie hielt Vosskamp ihren Bandring hin, in dem drei schwarze Löcher klafften. Vosskamp warf einen Blick darauf.
»Und Sie mögen Bücher?«, fragte er. »Sie waren Bibliothekarin?«
»Das bin ich eher durch Zufall geworden. Zuerst war ich Bauhilfsarbeiterin bei der Firma Karl Möbus. Zweiundsiebzig Pfennig Stundenlohn. Da wurden noch fünfzehn Prozent von abgezogen, Lohnsteuer. Die hatten nicht mal richtiges Papier, um den Lohnzettel zu schreiben, aber schon Steuern. Dann war ich beim Briefmarkenhandel. Das war in der Schlossstraße 84, in einem Zigarrengeschäft. Wir haben mit den Amerikanern getauscht. Einer der Kunden, Jake Mitchel, ein GI, organisierte den Aufbau der Stadtbibliothek in der Sattelkammer vom Alten Marstall. Der war zerstört, und die suchten Hilfe. Und ich konnte ja anpacken. Und dann wurde ich sogar beamtet, 1952 war das. Darum bin ich auch privatversichert und darf in der ersten Klasse sein. Wenn das meine Mutter wüsste. Sie hat sich mit mir so viel Mühe gegeben. Ich musste immer hochdeutsch sprechen. Icke, Kleener, ooch statt auch, das durfte ich alles nicht sagen.«
Vosskamp schrieb etwas in seinen Block, und Lotti wartete, bis er fertig war. Sie spürte den abkühlenden Schweiß auf ihrer Haut, der Geruch drang durch ihren Parfümduft. Sie benutzte Blue Grass von Elizabeth Arden, wegen der Pferde auf dem Flakon.
»Das waren so viele Zufälle damals. Das ist einfach zu viel zum Erzählen.«
Vosskamp legte den Block beiseite. »Sie sind ja eine richtige Urberlinerin«, sagte er. »Da kannten Sie noch das mondäne Berlin? Das Stadtschloss, das Adlon, den Kurfürstendamm?«
»Na ja, ich kam aus Kreuzberg. Man ging damals nicht auf den Ku’damm.«
»Ach?«
»Da gehörte man nicht hin. Und später hat man die feinen Leute verachtet. Weil die abreisten, als die ersten Bomben fielen. Wissen Sie, ich kenne alte Frauen, die haben auf Marlene Dietrichs Grab gespuckt. Die sind extra nach Friedenau gefahren, auf den Friedhof in der Stubenrauchstraße, nur um der Dietrich aufs Grab zu spucken.«
Vosskamp stieß einen kurzen Laut aus, zwischen Erstaunen und Amüsement. »Aufs Grab gespuckt?«
»Ja«, sagte Lotti. »Weil sie uns verlassen hat. Als sie sang, dass sie noch einen Koffer in Berlin hat, da waren wir fassungslos. Wir hatten nämlich gar nichts mehr, damals.«
»Die Seligkeiten vergang’ner Zeiten sind alle noch in meinem kleinen Koffer drin«, zitierte Vosskamp in einem Singsang und deutete dazu die Armbewegung eines Entertainers an, der gerade eine Showtreppe herunterwackelt.
»Wir hatten nichts zu essen, und sie hatte Seligkeiten?«, fragte Lotti. Ihre Stimme wurde lauter. »Und wer hat diese Seligkeiten so schön säuberlich aufbewahrt und in den Berliner Bombennächten darauf aufgepasst? Wer hat den Koffer der Dietrich ständig in den Luftschutzkeller geschleppt und danach wieder die Treppen rauf? Wer hat es sich verkniffen, ihre Seligkeiten auf dem Schwarzmarkt zu tauschen gegen Rüben, weil er am Verhungern war? Und warum wird das in dem Lied nicht erwähnt? Warum wird dem Kofferträger nicht gedankt? Weil die Dietrich nur an ihren Koffer denken konnte, nicht an die Menschen.«
Vosskamp lachte leise.
»Was ist denn daran so komisch?«, fragte Lotti. »Wissen Sie, was meine Seligkeiten waren? Die Skiunterhose von meinem Bruder und sein weißes Bigband-Jackett. Darauf habe ich
Weitere Kostenlose Bücher