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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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fegte ein Wind durch alles. Genau genommen, ein Antiwind, denn es gab nichts Festes, an dem er sich rieb. Er wehte und gleichzeitig war er starr.
    Sie konnte das keinem erklären. Die Ärzte nannten es Angststörung. Aber es war keine Angst. Der Antiwind war die Wirklichkeit, und Lotti hatte die Gabe, ihn zu spüren.
    Pfleger Carsten klappte den Toilettendeckel hoch und half ihr, sich umzudrehen und zu setzen. Die Unterhose konnte sie selbst herunterziehen, sie ließ sie auf die blaugeäderten Füße fallen, wo Pfleger Carsten sie fortnahm und in den Wäschebeutel steckte. Der Pfleger verließ das Bad, während Lotti ihr Geschäft verrichtete, er schaltete den Fernseher an und drehte ihn laut. Er drehte ihn lauter als nötig, denn er hielt sie für schwerhörig. Daran merkte sie, dass er es für sie tat, damit sie auch mitbekam, dass er nichts hörte, und nicht, weil er ihre Toilettengeräusche abstoßend fand.
    Als er ihr in der Dusche das Nachthemd auszog, blickte er an ihrem Körper vorbei, nicht wie einer, der sich ekelte, sondern wie ein Gentleman, der vorgab, etwas Schönes, das nicht für ihn bestimmt war, zu übersehen. Er half ihr, sich auf den Duschhocker mit dem Loch in der Mitte zu setzen. Er hob vorsichtig ihre steifen Arme, um die Achseln zu waschen. Unter den Brüsten wusch sie sich selbst. Ihre Haut war zerknittert wie trockenes Laub und roch nach der verschwitzten Nacht. Pfleger Carsten drehte den Duschstrahl auf sanft und hielt ihn unter den Hocker, während Lotti sich die Scham einseifte. Sie schämte sich, als das Wasser sie unten berührte, und war froh, als Pfleger Carsten ein Gespräch begann.
    »Ob Jacqueline heute in die Rettungskapsel muss?«, fragte er.
    »Ich habe für sie angerufen«, antwortete Lotti. »Endziffer nullvier.«
    »Na, das wird wohl den Ausschlag geben! Obwohl bestimmt alle sauer auf sie sind, nach der vergeigten Bergwerksprüfung. Jetzt haben sie kein einziges Licht mehr da unten.«
    »Das arme Mädchen hatte doch Angst, in diesem Lehmloch, mit der Maus vor der Nase.«
    »Selber schuld, wer sich drauf einlässt, oder? Ich würde mich nicht verschütten lassen, für nichts auf der Welt!«
    »Trotzdem tat sie mir leid«, sagte Lotti.
    Während sie sich im Sitzen abtrocknete, holte ihr der Pfleger frische Wäsche aus dem Schrank. Er pfiff durch die Zähne. »Da liegt ja alles Kante auf Kante!«, rief er. »Auf den Millimeter!«
    »Ja«, sagte Lotti. »Man muss immer alles bereitliegen haben, damit man es im Dunkeln findet. Damit man es mitnehmen kann.«
    Später sah sie nach, ob Pfleger Carsten wie immer sein Trinkgeld genommen hatte, sie legte ihm jeden Morgen zehn Euro auf den Tisch, obwohl sie selbst nicht so viel hatte. Der kleine dicke Pfleger Ingo bekam nichts, denn er war grob beim Waschen, und auch Schwester Nina mit den roten Koboldhaaren hatte Lottis Herz nicht gewinnen können. Eigentlich keiner außer Pfleger Carsten. Vielleicht noch Sylvia und die junge Annika. Aber die hatte sich vorgestern die Pulsadern aufgeschnitten, und jetzt war sie drüben auf der B, zusammen mit Xaver, der einen Tag später die Nerven verloren hatte. Er tat Lotti leid – wie alle –, gleichzeitig machte er ihr Angst. Gestern hatte er schon beim Frühstück rumort, ans Fenster getrommelt, mit vollem Mund wirre Dinge geschrien, Beate zum Weinen gebracht und schließlich die Scheibe zum Dienstzimmer zertrümmert, mit Lurieds Gitarre. Inzwischen war die Scheibe mit Pappe und Klebstreifen repariert, und man konnte kaum noch sehen, was im Dienstzimmer vor sich ging.
    »Mädel, sei bescheiden«, hatte die Mutter damals gesagt. »Und schau immer aufs Herz.« Und Lotti sagte auch nichts, obwohl sie sich die erste Klasse anders vorgestellt hatte, und sie schaute auch allen aufs Herz und sah überall Streichholzherzen mit Löchern und Lücken und verbrannten Stellen. Dann wünschte sie, sie könnte noch einmal zurück in die Königgrätzer Frühstücksstuben gehen, sich zum Geldboten an den Stammtisch setzen, eine Olympiamolle trinken, zuschauen, wie er die Scheine zählt, und die Streichhölzer aus den Aschenbechern sammeln.
    Vor der Visite schminkte sie sich, im Sessel, mit dem Handspiegel. Sie schminkte sich erst, seit sie alt war. Trotzdem fühlte sie sich jünger als die Models und Schauspielerinnen in den Zeitschriften, die vor ihr auf dem Fernsehtischchen lagen. Die Models, das waren für sie die Damen, die sich frisierten, parfümierten und die Absätze auf dem Pflaster klacken ließen,

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