Teufelsberg: Roman (German Edition)
noch an die vollen, geschwungenen Bögen. Sie hatte ihre Schönheit erst mit dem Alter, mit dem Verblühen erkannt, obwohl Johann es ihr immer gesagt hatte.
Um fünf nach elf klingelte sie nach dem Pfleger und bat ihn, sie auf die Toilette zu bringen. Pfleger Carsten führte sie die wenigen Schritte dorthin, aber diesmal stellte er den Fernseher nicht an, während sie auf der Toilette saß, sondern hastete auf die Station zurück und kam erst wieder, nachdem sie viermal geklingelt hatte. Sie spürte den Abdruck der Toilettenbrille auf ihrem Gesäß.
Um zwanzig nach elf brachte der Pfleger sie zu Vosskamp. Es war nur ein kurzer Weg durch den Stationsflur bis zum Nordturm, den alle den Thera-Tower nannten. Lotti machte winzige Schritte, und zwischendurch blieb sie stehen und konnte nicht mehr weitergehen.
»Ich falle«, rief sie, »ich falle!«
»Aber ich halte Sie doch«, sagte Pfleger Carsten.
Lotti hielt sich an den Griffen ihres Rollators fest und drückte auf die Handbremsen, damit er nicht wegrollte. Sie spürte den Antiwind. Es gab sonst nichts, nicht einmal Leere, nur rasendes Nichts. In ihren Lungen war ein schnelles Pfeifen, und durch ihre Adern surrten stachelige Fäden.
»Atmen«, sagte Pfleger Carsten, »einfach ganz ruhig atmen.«
»Aber ich falle!«
»Frau Kaleschke, kriegen Sie jetzt bitte keine Panikattacke. Konzentrieren Sie sich auf etwas anderes. Sehen Sie das Bild da hinten an der Wand? Von Horst Vierer? Kennen Sie Horst Vierer? Den Ostberliner Maler?«
Lotti hielt die Luft an. Während sich in ihr eine gepresste Stille ausbreitete, betrachtete sie das Gemälde. Lauter bunte Strichmännchen waren darauf zu sehen, außerdem Blumen und am unteren Bildrand ein Zimmer voller Betten. Irgendwie ähnelte das Bild ihrem Lebensweg. Das Glück der Liebe, dargestellt durch eine Blumenwiese, war bald vorbei, und die Mädchen landeten ganz unten im Krankenhaus. So wie sie damals in Marienwerder. Seltsam, dachte Lotti.
»Atmen!«, sagte Pfleger Carsten.
Lotti schnappte nach Luft, ihre Arme zitterten. Der Pfleger zog sie ein Stück nach vorne, zwang sie zu einem Schritt. Sie drückte wieder auf die Handbremsen, und der Kampf begann von vorn. Anfangs nahm Pfleger Carsten sie noch sanft am Arm, dann fasste er härter zu, und am Ende des Ganges zerrte er an ihr. Beide schnauften.
»Mein Gott, Frau Kaleschke«, stöhnte Pfleger Carsten, »ich muss Sie doch pünktlich beim Chef abgeben! Machen Sie es mir doch nicht so schwer!«
Nie wieder, dachte sie, nie wieder kriegt dieser Mann auch nur einen Pfennig Trinkgeld von mir.
Es dauerte eine Viertelstunde, bis sie den Behindertenaufzug des Nordturms erreicht hatten. Um auf die Fahrstuhlplattform zu gelangen, musste Lotti den Fuß anheben. Sie schrie wieder auf: »Ich falle!«
Als sie in Vosskamps Büro ankamen, war Lottis rostrotes Twinset unter den Armen und den Brüsten durchgeschwitzt, und sie musste sich zusammennehmen, um nicht vor Scham zu weinen. Pfleger Carsten platzierte sie auf einem Ledersofa.
»Ich hole sie um zwanzig nach wieder ab«, sagte er zu Vosskamp, ohne Lotti noch einmal anzusehen. Dann ging er.
Vosskamp gab ihr die Hand, setzte sich in einen tiefen schwarzen Sessel gegenüber und begann, langsam zu wippen. Lotti sah sich um. Der Professor hatte fast eine ganze Turmetage für sich. Die Wände bestanden aus Halbkugelfenstern. An der Wand zum Sekretariat stand ein Regal, aber es gab keine geschützte Ecke; von allen Seiten raste der Himmel in den Raum hinein, und die Möbel standen frei herum.
»Frau Kaleschke«, sagte Vosskamp, »schön, dass Sie da sind! Wie geht es Ihnen?«
»Es geht schon.«
Sie musterte Vosskamp, den sie nur aus den kurzen Chefarztvisiten kannte. Er war ein robuster, blonder Mann mit einem fröhlichen Gesicht, in dem sich etwas Einsames verbarg. Er erinnerte sie an den Brauereikutscher, der die Bierfässer in die Königgrätzer Frühstücksstuben gebracht hatte.
Sie hatte die Pferde streicheln dürfen, manchmal gab sie ihnen alte Brotkanten. Später sah sie sie auf der Straße liegen, die aufgeblähten Bäuche waren voller Fliegen, und die toten Menschen ringsum hatten Gesichter wie aus Wachs. Dann kamen Männer und vergruben alle, Menschen und Tiere, im Garten der Dänischen Kirche, am Stoecker-Hospiz, wo Lotti als Kind gespielt hatte. Verzierte Eisengittertüren schlossen die Gartenanlage ab. Am Gitter hing ein Schaukasten der Parfümerie Funke. Als Kind hatte Lotti sich den Spaß gemacht, am Gitter zu
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