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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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aufgepasst. Damit er was zum Anziehen hat, wenn er wiederkommt. Aber dann musste ich die Klamotten selber tragen, bis sie mir vom Leibe fielen, und hatte noch Schuldgefühle deswegen. Und mein Bruder, der kam nicht wieder. Der ist im Ardenner Wald gefallen. Der hat nicht berühmt in Amerika gesessen und von irgendeinem Koffer in Berlin gesungen.«
    Lottis Gesicht glühte, sie presste sich die Hände an die Wangen. Mein Gott, dachte sie, ich habe mich gehen lassen.
    »Aber Frau Kaleschke«, sagte Vosskamp, immer noch lachend. »Das ist doch nur ein Lied, das hat doch jemand ganz anderes geschrieben. Das haben doch alle gesungen – die Knef, sogar der Udo Lindenberg. Den Koffer in Berlin, den hat es nie gegeben.«
    »Sie hat es aber behauptet, die Dietrich«, sagte Lotti leise.
    Vosskamp wurde wieder ernst. Eine Weile sprachen beide kein Wort. Lotti saß mit hochgezogenen Schultern auf dem schwarzen Ledersofa, während Vosskamp in seinem Sessel wippte.
    »Ich kann das gut verstehen, dass Sie auch gern so einen Koffer hätten«, sagte er schließlich. »Nach allem, was Sie erleben mussten.«
    »Wenigstens ein Foto oder einen Brief«, flüsterte Lotti.
    »Ja.« Vosskamp stützte sein Kinn in die Hand und nickte.
    »Aber ich habe das nicht getan«, sagte Lotti. »Marlene aufs Grab gespuckt, meine ich. Ich habe da nicht mitgemacht. Und bitte entschuldigen Sie meinen Tonfall vorhin.«
    »Aber Frau Kaleschke!«, rief Vosskamp, nahm das Kinn aus der Hand, richtete den Oberkörper auf und begann, heftiger in seinem Sessel zu wippen. »Ich freue mich über Ihren Tonfall, über Ihre Wut! Sie müssen die Wut einsetzen gegen die Angst. Verstehen Sie? Die Wut gegen die Angst!«
    Lotti wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie senkte den Blick, er fiel auf Vosskamps Block, der auf dem Sofatischchen lag, und sie sah, dass Vosskamp gar nichts geschrieben, sondern mit dem Kugelschreiber ein feines Gitter und ein Schachmuster aus Dreiecken gezeichnet hatte, aus dem einige Pfeile wuchsen. Vosskamp bemerkte ihren Blick.
    »Sie sind eine hellwache alte Dame«, schmunzelte er. »Da erwischen Sie doch glatt den Chef beim Herumkritzeln. Was ich Sie fragen wollte: Haben Sie sich bei uns eingelebt?«
    »Nein. Es ist auch nicht leicht, auf einmal zu den Irren zu gehören. Wo ich doch mein ganzes Leben lang so stark war.«
    »Das kann ich nachempfinden. So sind Sie aufgewachsen. In Ihrer Jugend wurden psychische Krankheiten noch tabuisiert.«
    »Na ja, ich war mal im Irrenhaus, als junge Frau. Aber nur auf der Durchfahrt. Das war, als das Krankenhaus Marienwerder evakuiert wurde, im Lazarettzug. Ich hatte eine Blinddarmoperation. Im Zug lagen alle durcheinander, Männer, Frauen, keiner hat sich gekümmert, die Leute haben gestöhnt und geschrien. Und ich hatte solchen Durst, ich habe das Wasser von den Scheiben geleckt. Das Irrenhaus war in Ueckermünde, aber es waren keine Irren mehr da. An den Fenstern fehlten die Griffe, so ähnlich wie hier. Dann bin ich abgehauen. Weil ich keinen Stuhlgang mehr hatte. Weil ich dachte, ich platze, ich sterbe. Und weil Johann es mir doch aufgetragen hat. Da wollte ich nur noch nach Hause, nach Berlin, zum Anhalter Bahnhof, und dort auf ihn warten. Und stellen Sie sich vor, da war eine fremde Frau, die hat mir am Schalter eine Karte gelöst. Vier Reichsmark und zwanzig Pfennig hat die gekostet. Die war lindgrün, die Karte. Aber als ich ankam in Berlin, war nichts mehr da. Die Königgrätzer Frühstücksstuben – weggebombt. Das Haus, wo wir lebten – weggebombt. Meine Mutter – weggebombt.«
    Ihr Herz hatte heftig zu schlagen begonnen, und das letzte Wort schrie sie fast heraus. Vosskamp griff wieder nach dem Kugelschreiber und tippte ein paarmal kurz auf den Block. Mein Gott, ich langweile den Professor, dachte Lotti. Jetzt muss er sich mein Geschwätz und Geschrei anhören, und was habe ich schon zu sagen.
    In diesem Moment legte Vosskamp mit einer raschen Bewegung alles beiseite, lehnte sich zurück, faltete die Hände und guckte Lotti in die Augen. Er hatte hellblaue Augen, in denen ein Selbstbewusstsein blitzte, als wäre er ein schöner Mann und wüsste das auch. Lotti beruhigte sich wieder.
    »Und der ganze Bahnhof war voller Kettenhunde«, sagte sie, »ich hatte Angst, dass die mich erschießen.«
    »Sie haben geglaubt, dass die Hunde Sie erschießen?« Vosskamp griff wieder nach seinem Block.
    »Nein, die Kettenhunde, das waren die Feldjäger«, erklärte sie. »Die hatten so dicke Ketten um

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