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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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während Lotti, die kleine Lotti, nur Rock und Bluse trug und ihr Gesicht mit Kernseife wusch.
    Wenn sie in den Zeitschriften blätterte, stand sie wieder auf dem Anhalter Bahnhof, oben, neben der Uhr, am Geländer, und sah den Reisenden zu. Die feinen Leute kamen mit ihren Schrankkoffern, die Damen trugen Pelzmäntel und Federhüte, und um sie herum scharwenzelten die Gepäckträger und die Pagen vom Hotel Excelsior. Die Stimmen und die Geräusche der Züge vereinten sich unter der Kuppel der Bahnhofshalle zu einem Brausen. Das war die große Welt. Die Welt war nicht in den Königgrätzer Frühstücksstuben, wo die Mutter servierte, oder in ihrer Einzimmerwohnung oder im Rinnstein, wo der Bruder die Wikingautos fahren ließ, die ihm ein Stammgast geschenkt hatte – hohle Formen mit Achsen aus Draht.
    Manchmal glaubte Lotti, sie würde eines Tages erwachen, an ihrem achtzehnten Geburtstag, und sich verwundert an den Traum vom Altsein erinnern.
    Die Oberärztin, Frau Dr. Thewes, ließ bei der Visite die Tür einen Spalt breit offen und setzte sich auf die Kante des Stuhls, gegenüber von Lottis Sessel. Sie ließ ihren weißgrauen Kugelschreiber zwischen Zeige- und Mittelfinger wippen, während sie Lottis Akte durchsah.
    »Als ich jung war, hatte ich auch so dicke, dunkle Haare wie Sie«, sagte Lotti.
    Die Thewes sah auf: »Wie geht es denn mit dem Escitalopram? Das müsste langsam mal anschlagen.«
    »Aber ich habe sie anders getragen«, fuhr Lotti fort. »Ich habe sie tief in den Nacken gezogen und nach oben eingerollt. Die Frau Hähnel war immer so neidisch darauf. Frau Hähnel von der Bäckerei Hähnel. Das war die Tante von meinem Verlobten. Die hat mich damals versteckt, nach dem Krieg. Und dann hat es sie selbst erwischt, obwohl sie schon alt war. Manchmal denke ich, darauf war sie in Wahrheit neidisch, dass ich verschont blieb, nicht auf die Haare. Diese Frisur hatte auch einen bestimmten Namen, die war damals ganz modern. Wie war der noch mal?«
    »Frau Kaleschke? Sind Sie noch bei mir?«
    »Ja«, sagte Lotti und senkte den Kopf. »Das Medikament vertrage ich gut. Nur schlafen kann ich nicht. Und ich bin immer müde und muss ständig auf die Toilette. Und das ist nicht so einfach für mich, ich kann das ja nicht allein.«
    »Das liegt wohl am HTZ. Das ist ein Diuretikum, das ist harntreibend. Aber eine gute Ergänzung zum Bisoprolol. Und geholfen hat es ja schon, Ihr Blutdruck ist runtergegangen.«
    »Ja«, sagte Lotti.
    »Und was macht die Angst? Wird es besser?«
    »Nein«, sagte Lotti.
    »Und heute haben Sie Ihre erste Einzeltherapiesitzung beim Chef?«
    »Ja«, sagte Lotti.
    »Das ist doch schön. Da können Sie über alles reden. Sich mal alles von der Seele reden, ja?«
    »Ja«, sagte Lotti.
    »Gut, wenn sonst nichts Akutes anliegt, lassen wir es heute dabei.«
    »Ja«, sagte Lotti.
    Die Thewes stand auf, an der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Sie wissen, dass Sie heute Nachmittag zur Musiktherapie gehen?«
    »Nein«, sagte Lotti. »Da will ich nicht hin.«
    »Sie müssen sich aber schon mal auf was Neues einlassen. Die alten Muster durchbrechen, verstehen Sie? Dann finden Sie auch wieder Mut. Ohne Ihr Zutun klappt das nicht.« Sie streckte Lotti die Hand hin. »Alles Gute.«
    Lotti nahm die schmale Hand der Ärztin und lächelte vorsichtig. Die Thewes lächelte zurück. Dann ging sie, die Tür fiel ins Schloss.
    Im gelben Lack der Tür sah Lotti so etwas wie ein Spiegelbild, einen groben Umriss. »Olympiarolle«, sagte sie in die Stille hinein. »Das war der Name der Frisur.«
    Die nächsten drei Stunden saß sie im Sessel und starrte aus dem Fenster.
    Olympiarolle, Olympiamolle, dachte sie. Komisch, das reimt sich ja.
    Sie wusste nicht, was sie in der Einzelstunde bei Vosskamp erzählen sollte. Sich alles von der Seele reden, wie die Thewes gesagt hatte? Aber was denn?
    Früher hatte sie manchmal gedacht, dies oder jenes erzähle ich meinen Enkeln. Aber sie hatte keine Enkel und inzwischen auch keine Erzählung mehr. Die Erinnerungen waren zerfetzt, und wie sollte sie sich Fetzen von der Seele reden? Sie stellte sich eine Vogelscheuche vor, von der der Wind zermürbte Lumpen riss, bis nur noch ein Holzkreuz in der Landschaft stand.
    Um elf Uhr nahm sie noch einmal das Schminkzeug zur Hand und puderte ihr Gesicht. Die Haare trug sie auf Ohrlänge, sie waren weiß, aber immer noch voll. Die Nase war zierlich, die Brauen hoch angesetzt. Die Oberlippe war eingesunken, aber Lotti erinnerte sich

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