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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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den Hals, mit Schildern dran. Deswegen hießen die so. Und ich war ja im Grunde fahnenflüchtig, ich bin ja nicht zum Reichsarbeitsdienst zurück. Die hätten mich an die Wand stellen können.«
    »Schrecklich, was Sie durchmachen mussten.«
    »Ich wüsste so gerne, wer das war, diese fremde Frau. Die mir die Fahrkarte gekauft hat. Ich hätte mich so gern bedankt.«
    »Ja, mit dem Danken ist das so eine Sache«, sagte Vosskamp, hob seine Hand, wedelte mit ihr und wechselte in eine höhere Tonlage. »Das ist übrigens ein Phänomen bei psychiatrischen Patienten. Kurz vor der Entlassung, wenn sie gesund sind, werden sie plötzlich undankbar und beschweren sich über alles. Sie werden das auch an sich bemerken, Frau Kaleschke. Na, vielleicht denken Sie dann an unser Gespräch zurück.«
    »Aber ich wollte mich wirklich bedanken bei der Frau. Bei vielen Menschen, nicht nur bei ihr. Auch bei Frau Hähnel, die mich versteckt hat. Frau Hähnel von der Bäckerei Hähnel. Wir haben zusammen den Bunker verlassen, wir sind durch den S-Bahntunnel gelaufen, nach Norden. Weil wir doch dachten, da ist die Armee vom Wenck, die rettet uns. Zuerst konnten wir noch auf dem Stromschutz balancieren. Dann wurde der Tunnel geflutet, das Wasser ging bis zu den Knien, immer höher, und dauernd fielen wir hin, weil da überall Sachen im Gleisbett schwammen, vielleicht auch Körper. Das konnte man nicht auseinanderhalten, es war ja dunkel. Der ganze Krieg war dunkel. Das können Sie nicht wissen, dafür sind Sie zu jung, Sie kennen den Krieg ja nur von den Bildern, und die sind hell. Aber der Krieg war ganz anders, ohne Bilder, ohne Licht. Der Krieg war das, was man nicht sah. Der war traumlos, wissen Sie. Das war das Schlimmste.«
    Vosskamp wedelte wieder mit der Hand. »Eine verwegene These, die Sie da aufstellen, Frau Kaleschke!«
    »Wenn wir an der Friedrichstraße nicht rausgeklettert wären, dann wären wir ertrunken«, fuhr Lotti fort. »Im Sommer fünfundvierzig bin ich noch einmal hin. Das ganze Wasser hat gestunken, die sind da mit Kähnen drin rumgefahren und haben die Leichen rausgeholt. Frau Hähnel hat sich später umgebracht. Nicht wegen der Leichen, wegen der Russen. Aber erst in den Fünfzigern. Ein paar Jahre hat sie noch durchgehalten.«
    »Ja …« Vosskamp wedelte noch einmal mit der Hand.
    Lotti schluckte. Auf einmal mochte sie ihn nicht mehr. Was sollte das eigentlich heißen, verwegene These?, dachte sie, warum tut er denn so, als wäre ich klug, ich will ihm doch gar nichts beweisen. Und schön ist er auch nicht. Und wie albern er war, als er die Dietrich nachahmte. Ist er andersrum, oder was sollte das?
    Es entstand eine Pause. Vosskamp drückte die Fingerspitzen aneinander und klappte die Hände auf und zu. Er senkte die Augenbrauen und stülpte die Lippen vor, als wollte er einem kleinen Mädchen sagen: Ach komm schon, sei doch nicht bockig. Ein paarmal fing er ihren Blick. Ein paarmal wollte Lotti weiterreden, aber am Ende ließ sie es.
    Von draußen schlug es dumpf an die Wände vom Bunker am Anhalter Bahnhof, und irgendwie rollte alles, die Bewegungen, die Stimmen. Es stank nach Körperfett, nach Ammoniak und Kot, die Toiletten waren längst übergelaufen, man benutzte die Treppenaufgänge als Abtritt. Irgendwelche Frauen brachten Butter mit, Butter und Zucker, Säcke voll, die hatten sie wohl am Güterbahnhof gestohlen, jetzt verteilten sie alles. Die Leute stopften die Butter in sich hinein, mit bloßen Händen, und streuten sich Zucker in den Mund, auch Lotti tat das. Das Gemisch schmeckte nach Kuchenteig, es knirschte zwischen ihren Zähnen. Sie sah den Fahrstuhl, einen Gitterkasten, darin die Soldaten, es waren noch Kinder, sie fuhren nach oben, zur Flak aufs Dach. Als der Fahrstuhl zurückkam, waren Tote darin, blutig und zerfetzt. Lotti übergab sich, dann sah sie, dass sich noch andere übergaben, einer nach dem anderen. Aber nicht wegen der zerfetzten Kinder in den Uniformen, sondern wegen der Butter und dem Zucker, das war zu viel für die ausgehungerten Mägen. Auf einmal hieß es, die Russen stehen am Kreuzberg. Und die ganze Zeit war es dunkel. Sie wusste nicht mehr, ob es Nacht oder Tag war.
    Lotti kniff die Augen zusammen, dann sah sie sich um. Der Himmel, der von allen Seiten auf sie zukam, war grau und an einigen Stellen aufgerissen. Vosskamp spielte noch immer mit den Händen und blitzte mit den Augen.
    Er ist nicht schön, dachte Lotti. Johann Aschmutat war schön. Und trotzdem hat er nicht

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