Teufelsberg: Roman (German Edition)
zusammen, denn alles war nun kleiner als ihr Herz, sogar die gigantische Bahnhofshalle, es brauste und rauschte laut darin.
Als der Gutsverwalter Johann Aschmutat aus dem Memelland ein Jahr später um ihre Hand anhielt, an einem hellen Herbsttag im Jahr 1943, segelten rote Ahornsamen durch den Wind, und Lotti war gerade sechzehn geworden. Kurz darauf begann die Bombardierung Berlins.
»Es kann auch gut tun, einmal gemeinsam zu schweigen, nicht wahr?«, fragte Vosskamp in die Stille hinein.
Lotti sah auf. Sie merkte jetzt erst, wie sie in sich hineinlächelte. Vosskamp denkt wohl, mein Lächeln gelte ihm, dachte sie, und unwillkürlich lächelte sie noch mehr. Sie verzieh ihm seine Bemerkung über den Undank und über die verwegene These und seine Parteinahme für die Dietrich, sie verzieh Pfleger Carsten, der sie hierhergezwungen hatte, sie verzieh sogar Gott für die Löcher und den Antiwind, und sie verzieh ihren eigenen, brüchigen Beinen. Sie verzieh alles, weil es Mokischken gab und weil das Licht sich dort immer noch wölbte.
»Das hat mich berührt, was Sie heute erzählt haben«, sagte Vosskamp. »Es hat mich nachdenklich gestimmt. Das beschädigte Leben. Das beschädigte und bedrohte Leben.«
»Danke«, erwiderte Lotti. Von Mokischken sage ich ihm nichts, dachte sie. Zur Strafe für seine Bemerkungen. Soll er ruhig weiter an Beschädigung und Bedrohung denken, ich denke nur noch an Mokischken.
Und wieder lächelte sie und hörte Johanns raue Stimme: »Du bist doch ein rechtes Aas’chen! Aber ein liebes …«
Sie nickte Johann leise zu, durch den dicken Vorhang aus Zeit. Auch damals hatte er Aas’chen gesagt, weil sie schlau war und ihren Reichsarbeitsdienst in seiner Nähe antrat, im Kirchspiel Nattkischken, an der Grenze zu Litauen. Siebenundsiebzig Arbeitsmaiden waren sie und lebten im Wald, vier Kilometer vom Dorf entfernt, in Holzbaracken, sie zogen abends die Fahne hoch und holten das Wasser aus einem Brunnen, sie halfen im Herbst bei der Ernte und suchten den Kindern die Läuse vom Kopf, und im Winter schippten sie die Straßen frei.
»Wir werden euch schon die Hammelbeine langziehen«, sagte die Stabsführerin, aber Lotti dachte nur an Johann, und wenn sie ihn über die Felder reiten sah, war sie glücklich. Im Frühling wollten sie heiraten. Sie warteten noch auf den Bruder, er sollte ihr Trauzeuge sein. Er war als Soldat an der Westfront.
Vosskamp beugte sich vor.
»Dann wünsche ich Ihnen viel Freude bei der Musiktherapie heute Nachmittag«, sagte er und gab ihr zum Abschied die Hand. »Nehmen Sie es mir nicht krumm, wenn ich zwischendrin gelacht habe. Ich glaube, Sie wissen gar nicht, wie viel Humor Sie haben. Sie haben so vieles in sich, Frau Kaleschke, das Sie gegen die Angst einsetzen können.«
Wieder blitzte er mit den Augen, und Lotti kam es so vor, als würde er, während er sie ansah, über die eigenen Augen nachdenken.
Pünktlich auf die Minute kam Pfleger Carsten und brachte Lotti zurück. Auf dem Weg durch den Flur gelang es ihr, nicht zu schreien. In ihrem Zimmer empfing sie der Baulärm. Auf dem Tisch stand das Tablett mit dem Mittagessen. Sie hob den Isolierdeckel vom Teller. Es gab Tafelspitz mit Meerrettichsoße, dazu leicht matschige Karotten und zerfallene Kartoffeln, zum Nachtisch Quarkspeise mit Birnen.
Nach dem Essen las Lotti die Bildzeitung, die über Jacqueline Webermann berichtete. Angeblich hatte ihr Freund sie verlassen, nachdem er ihre Bergwerksprüfung im Fernsehen gesehen hatte. »Diese Frau ist mir fremd!«, zitierte ihn die Zeitung in riesigen Lettern, und daneben war Jacquelines verschmiertes Gesicht im Astronautenhelm zu sehen und die Maus, die possierlich in die Kamera guckte.
Das arme Mädchen, dachte Lotti. Sie fühlte sich auf einmal nicht mehr gut.
Draußen war der Park mit seinen Erdhaufen, dazwischen fuhr ein silbergrauer Pritschenwagen herum, der braune Reifenspuren in der dünnen Schneedecke hinterließ. Einige der alten Bäume standen noch, Pappeln, Ahorne und Eichen. Ihre knotigen Äste sahen aus, als hätten sie Muskeln.
Lotti erinnerte sich an die unzähligen Lastwagen, die den Kriegsschutt seit Anfang der Fünfzigerjahre in den Grunewald gefahren hatten, weil in der Stadt dafür kein Platz mehr war, Millionen und Abermillionen Kubikmeter Schutt, und wie der Trümmerberg gewachsen war, jahrelang, jahrzehntelang. Bei klarem Wetter sah man weithin den Staub, er umhüllte den Berg wie eine Aura. Dann kamen das Gras und der Wald, dann
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