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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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für Mo…, für Mo… kisch… Ich gehe jetzt raus. Der Krieg ist aus. Ich nehme mein weißes Taschentuch, danke Herrn Fischer von Weikersthal. Hoch, hoch, hoch, auf den Bahnhof. Die Muskeln zittern. Wer schreit denn da so?
    »Lotti, komm zurück, um Gottes Willen, komm zurück!«
    Es war Frau Hähnel. Aber Lotti hörte nicht auf sie, sie stieg die U-Bahntreppe hoch. Aus dem Himmel quoll Licht und floss über die Trümmer, die Leichen, die verbogenen Straßenbahnschienen, die Autos, und es war Mai.
    »Die Russen«, rief Frau Hähnel, »die Russen! Um Gottes Willen, Lotti, komm zurück!«
    »Hier sind keine Russen, niemand mehr da. Ich ziehe Sie hoch, nehmen Sie meine Hand!«
    Lotti legte sich auf den Bahnsteig, griff über die Kante und packte eine dürre Hand und zog Frau Hähnel auf den Bahnsteig und die Treppe rauf und die Straße entlang. Ihr Keuchen war das einzige Geräusch. An der Friedrichstraße, Ecke Georgenstraße, an einem Blumenladen, blieben sie stehen. Die Schaufensterscheibe war zerborsten, zerrissene Pflanzen bedeckten das Pflaster, aber in den Rundungen der Vasenscherben, die auf dem Boden lagen, fand Lotti Wasser. Sie goß es Frau Hähnel und sich in den Mund. Vor sich sah sie eine durchscheinende Fratze, struppig, schwarz und hohläugig, die genau vor ihren Augen hin und her schwankte.
    »Bin ich wahnsinnig?«, fragte Lotti.
    Die Fratze bewegte den zerrissenen Mund, und Lotti erkannte ihr Spiegelbild im Splitter der Schaufensterscheibe.
    Die Menschen, die ihnen auf dem Weg zum Anhalter Bahnhof entgegenkamen, hatten dieselben hohlen Augen wie Lottis Spiegelfratze. Lotti fragte sich die ganze Zeit, was fehlte, denn irgendwas fehlte, nicht nur die Häuser. Die Stadt hatte ihre Geräusche verloren, alles, was Lotti hörte, klang künstlich und laut. Am Himmel waren drei weiße Sonnen, und Lotti blinzelte.
    »Meine Güte, Frau Kaleschke!«, rief der Musiktherapeut von unten, seine Stimme waberte und sirrte. »Sie sind ja allein die halbe Treppe hochgelaufen!«
    Erst jetzt merkte Lotti, dass sie in der Mitte der Stufen stand, weit weg vom Geländer. Sie erschrak. »Ich falle! Ich falle!«, schrie sie.
    Zwei Pfleger eilten hoch zu ihr, trugen sie nach draußen und setzten sie in den Rollstuhl. Die meisten Patienten hatten das Gewölbe schon verlassen. Sylvia holte Lotti zu den anderen. Sie standen am Ufer des Teufelssees. Beate und Falko rauchten. Friedrich starrte auf die Eisfläche, die an einigen Stellen dunkel war und weiße Blasen in sich einschloss. An anderen Stellen kräuselten sich nackte Wellen. Die Wolkendecke hatte Löcher bekommen, ein paar Sonnenstrahlen brachten das Wasser zum Glitzern. Am anderen Ufer umrahmte der Wald den See, schwarzes Papier mit ausgefranstem Rand.
    »Na, Lotti, hattest du auch genug von dem Krach?«, fragte Sylvia mit ihrer lieben, hohen Stimme.
    Lotti klapperte mit den Zähnen. Falko zog seine Jacke aus und legte sie um ihre Schultern.
    »Das war herb da unten«, sagte er. »Ich dachte, ich wäre schon tot und in der Hölle.«
    »Warum nicht im Himmel?«, fragte Sylvia.
    »Weil ich durch Selbstmord gestorben wäre.«
    »Wir dürfen nicht über Selbstmord reden«, sagte Beate.
    »Doch«, sagte Falko, »wenn wir schon tot sind, dürfen wir das.«
    Er warf seine Zigarette in den Sand und grub sie mit seinen polierten Schuhen ein.
    Bald darauf kamen die Therapeuten aus dem Gewölbe. Die beiden Frauen lachten und lärmten.
    »Nach so was habe ich mein Leben lang gesucht«, sagte die eine.
    »Das tat so gut«, sagte die andere.
    Der Musiktherapeut war verärgert. »Weißt du, was so ein Gong kostet?«, fragte er den Psychologen, der trotz der Kälte verschwitzt war und sich die Glatze mit einem Taschentuch abwischte. »Zehntausend Euro. Plus Versandkosten. Und mit Versandkosten meine ich den Import aus Japan. Und du haust ihn einfach kaputt.«
    »Quatsch.«
    »Du hast ihn völlig verbeult, und jetzt hat er Dissonanzen.«
    Sie stießen auf die Patienten.
    »Hallo«, sagte der Musiktherapeut. »Wie hat es Ihnen gefallen? War doch mal was anderes als immer nur das Krankenhaus, oder?«
    Falko grinste. »Es hat uns sehr inspiriert«, sagte er und machte mit dem Zeigefinger eine Schnittbewegung an seiner Kehle.
    Sylvia kicherte, Beate sah sie strafend an.
    Es dämmerte, als sie zurück zur Cardea fuhren. Der Himmel hatte sich wieder zugezogen, graues Licht fiel zwischen die Bäume, die enger zusammenzurücken schienen.
    Lotti war erschöpft. Sie bedankte sich bei Falko für die

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