Teufelsberg: Roman (German Edition)
sind sie enttäuscht. Vielleicht bin ich einfach ein Idiot.«
Lotti begann zu weinen. Sie konnte sich die Nase nicht putzen, weil sie beide Hände für den Rollator brauchte, die Tränen blieben in den Falten hängen, und sie spürte, wie sich nach und nach ein nasser Film auf ihrem Gesicht bildete. Sie schluchzte ein paarmal, es klang wie das Blöken eines verdurstenden Schafes, und durch die Tränen sah sie Falko, der sich auf seinem Stuhl wand und sich dafür schämte, dass er sie abstoßend fand.
»Ja, ja«, sagte er schließlich, »ich denke darüber nach.«
Als sie im Bett lag und durch das Glasdach sah, trieb über ihr die hohle Dunkelheit mit einem mondförmigen Bullauge. Auf dem Rückweg vom Wintergarten in ihr Zimmer hatte sie sich vor Erschöpfung fast übergeben. Ihre Knochen schmerzten, und von außen drang kalte Müdigkeit in sie ein, als hätte sie überall Löcher bekommen, in der Haut, in den Augen, sogar in den Fingernägeln. Sie wartete auf die Wirkung der Zopiclon. Pfleger Ingo von der Nachtschicht machte seinen Kontrollgang und leuchtete mit der Taschenlampe in Lottis Zimmer. Lotti tat so, als würde sie schlafen, und er schloss wieder die Tür.
Lotti drehte ihren Verlobungsring am Finger, den Bandring der Familie Aschmutat mit den fehlenden Diamanten und Smaragden, und zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass die Steine womöglich im Teufelsberg steckten, zwischen den anderen Trümmern, die sie aufgeräumt hatte, mit ihren bloßen Händen, und dass sie jetzt auf ihnen lag wie die Prinzessin auf der Erbse.
Sie überlegte, was sie Johann erzählen würde, wenn Persecutio ihn fand. Sie dachte an seine Tante, Frau Hähnel, die hatte sie in den ersten Wochen nach der Kapitulation in einem Kellerloch versteckt. Darin stand ein altes Eisenbett. Der Keller gehörte zum Nachbargebäude der Bäckerei Hähnel, das weggebombt war. Lotti stieg durch den Durchbruch, die Burschen schoben den Schrank davor, und weil die Russen nicht wussten, dass die Berliner während der Bombardierung ihre Keller verbunden hatten, fanden sie Lotti nicht, obwohl sie sonst jede fanden. Morgens war die Matratze so klamm, dass die Burschen sie zum Trocknen auf den Ofen legen mussten. Dann hockte Lotti auf dem bloßen Gitter und wartete auf die Nacht.
»Damit du rein bleibst für meinen Neffen«, sagte Frau Hähnel, »damit Johann dich noch nimmt, wenn er kommt.«
Lotti verstand nicht, was Frau Hähnel meinte. Die Unreinheit, stellte sie sich vor, war ähnlich wie die Monatsblutung, flüssig, stinkend und für jeden sichtbar, und sie kam über Mädchen, die Fehler machten. Aber Lotti wusste nicht, welche Fehler das sein könnten und warum sie im kalten Keller schlafen musste, und sie traute sich nicht, Frau Hähnel zu fragen. Nachts hörte sie die Frauen schreien und dachte, die Russen bringen sie um, aber tags waren die Frauen wieder da, unverletzt, nur die Augen hatten sich verändert, als hätte sie jemand übermalt und dann die Farbe wieder weggeätzt. Eines Tages waren auch die Augen von Frau Hähnel so, und Lotti schämte sich, sie schämte sich für Frau Hähnel und für die eigene Unversehrtheit. Morgens sah sie durchs Kellerfenster die Beine der Frauen, die Frauen standen vor der Bäckerei an und erzählten sich, was geschehen war, und langsam, sehr langsam verstand Lotti. Manchmal sah sie Beine, an denen noch das Blut herunterlief, an denen die Strümpfe in Fetzen hingen, und trotzdem stand die Frau, zu der die Beine gehörten, in der Frühe um klitschiges, flaches Brot an.
Als Lotti sich daran erinnerte, im Krankenbett der Cardea, im Irrenhaus auf dem Trümmerberg, kam der Antiwind, raste durch ihren Geist und löste einen Gedanken, der lange versteckt war, inmitten ihrer zerfetzten Erzählung. Lotti tastete auf dem Nachttisch nach der Fernbedienung, sie hatte heute das Bergwerk verpasst, vielleicht kam noch eine Zusatzsendung über die Kandidaten im Spätprogramm, aber die Fernbedienung lag hinten auf dem Fernsehtisch, und Lotti sah die Dunkelheit und das Kellerfenster und die Beine der Frauen und roch die Spinnweben und den muffigen Mörtel und hörte die Mäuse rascheln, und der Gedanke kam angeflogen.
Ich habe es nicht wegen Johann getan. Ich bin nicht wegen ihm rein geblieben, sechsundsechzig Jahre lang, sondern wegen der Frauen vor dem Kellerfenster, weil ich verschont geblieben bin und sie nicht, weil ich es ihnen schuldig war.
Vor ihr zerplatzte etwas, sie wollte sich auf den Boden werfen, bis ihre
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