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Teufelsberg: Roman (German Edition)

Teufelsberg: Roman (German Edition)

Titel: Teufelsberg: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Dannenberg
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sollte, bis es nur noch ein blutiger Matsch mit kleinen roten Blasen war. Und sie dachte, wenn ich keinen Standpunkt habe, dann bin ich Gott. Dann bin ich bodenlos, ein Luftschlangenhaufen in der Mesosphäre, dann steckt meine Seele aufgeteilt in den Gummipfropfen einer Klobrille, dann war mein Leiden im Crazy Orcus ein Hohn, so wie das Leiden Christi ein Hohn war. Und wenn schon das erste Gebot nicht stimmt, wenn Gott nicht einmal Gott ist, wer ist er dann? Wie wäre die Welt geworden, wenn er zehn ganz andere Ideen auf die Steintafeln geschrieben hätte? Ich bin kein Gott, missbrauche meinen Namen, du sollst töten, du sollst ehebrechen, du sollst stehlen, du sollst begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Vieh und alles, was dein Nächster hat?
    In dieser anderen Welt mit den anderen Zehn Geboten wäre das Morden lustig, auch das Ermordetwerden, es gäbe keine Trauer, kein Grauen, auch keine Eifersucht, es wäre eine wundervolle Welt. Wenn Sylvia einem Mann das Gesicht zermatschte und ihn anschließend lebendig begrub, im Wald bei Oberkonnersreuth, wäre das in der anderen Welt ein Spiel. In der hiesigen Welt wäre sie irre, und ein Gutachter würde ihr eine Geisteskrankheit attestieren. Aber in der anderen Welt gäbe es keine Geisteskrankheit. Es gäbe auch keinen Gutachter, der Gutachter wäre ein kleines Tier, er glitte flötend durch den Abend. Es gäbe nicht einmal Sprache, statt der Worte verwendeten die Leute Klebstoff, und ihre Aussagen ließen sich daraus ableiten, welche Gegenstände sie jeweils zusammenklebten und mit sich herumtrugen. Und wie herrlich, wie herrlich und schrecklich wäre eine Welt, der Gott keine Gesetzestafeln gegeben hätte.
    Der Ventilator flappte und flappte. Auf dem Dielenboden lagen alte Zeitungen. Die Gesichter auf den Zeitungsbildern beobachteten Sylvia. Das war seit dem Sommer so.
    Es hatte in ihrem Büro begonnen, im August. Sie arbeitete bei Street Spirit, einem Kirchenprojekt. An der Wand hingen Plakate, behinderte Menschen, alte Menschen, schwarze Menschen, Menschen mit Schläuchen in der Nase. Neben allen schwamm der azurblaue Schriftzug der Diakonie. Auf einmal begannen die Gesichter auf den Plakaten, Sylvia anzusehen. Es waren zunächst nur die Augen, die aus der Plakatwelt in die echte Welt herübersahen, ohne sich zu bewegen. Sie waren nicht unfreundlich, nur erstaunt, genau wie Sylvia. In den folgenden Tagen ertappte sie sich immer wieder dabei, wie sie auf die Plakate starrte und darauf wartete, dass die Augen wieder lebendig wurden. Aber die Augen blieben meistens stumm. Stattdessen sah Martin jetzt manchmal so aus, als hätte auch er ein Plakatgesicht, das aus einer anderen Welt zu ihr herüberblickte.
    »Was ist los?«, fragte sie dann.
    »Was soll denn sein?«
    »Du siehst irgendwie so anders aus.«
    »Nein, es ist alles in Ordnung«, sagte er.
    Sie versuchte, die Augen nicht mehr zu beachten. Erst als die Heuschrecken kamen, dämmerte ihr, dass etwas nicht stimmte. Sie erzählte es Martin. Er verstand sie nicht, er glaubte, sie könnte die Heuschrecken sehen. Aber in Wahrheit waren die Heuschrecken immer verdeckt, und Sylvia nahm nur die Aura wahr.
    Von nun an war alles zugleich etwas anderes, alles hatte eine zusätzliche Bedeutung. Jetzt zum Beispiel, als sie mit dem Rücken an der Heizung stand und der Metallquader in ihrem Kopf sie zwang, Crazy Orcus zu denken, presste sie ihre Fingernägel in die Handflächen und nahm die schwachen, schabenden Füße des Entenkükens aus dem Bayreuther Hofgarten wahr.
    Gott liebt die Küken, ließ der Quader sie denken, aber genauso liebt er die Katzen, die sie fressen.
    Auf einmal begriff Sylvia, dass Gott, der Vater, eine Hure war. Seine Promiskuität erst machte das Böse möglich. Weil er jeden liebte, jedem verzieh, jedem auf seine Weise recht gab, nur darum konnte das Schlachten und Morden in der Welt nicht enden, nur darum gab es Tragödien.
    Jemand muss kommen, dachte Sylvia, der Gott erzieht. Jemand muss mal was Schreckliches tun und Gottes Vergebung verweigern, damit der zur Räson kommt. Ein neuer Messias muss her, ein Finsterling, ein teuflisches Opfer, das Gott erlöst, nicht uns.
    Über diese Idee war sie so erschrocken, dass sie begann, sich selbst zu schlagen. Sie wollte den Quader treffen und ausschalten, aber die magnetischen Ströme in ihrem Gehirn verebbten nicht. Sie fiel zu Boden, auf das Kirschparkett, und versuchte immer heftiger, den Quader zu treffen. Alles zerfiel in wirbelnde Fetzen, in

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