Teufelsberg: Roman (German Edition)
anstrengenden Mutter nach Hamburg, zum Verreisen hatte sie kein Geld. Darum lag sie den ganzen Sommer im Hofgarten herum und lernte zwei dicke traurige Männer kennen, die in einer betreuten Wohngemeinschaft am Wittelsbacherring lebten und sich von ihren Psychosen erholten. Der eine hatte einen blonden Bart, der andere ein pralles Gesicht und eine Narbe am Puls.
Sylvia ging mit, trank Tee in ihrer Küche, tauschte mit ihnen die Ohrstecker, ihren Yin-Yang-Stecker gegen einen roten Tropfen, ihren Totenkopf gegen eine venezianische Maske. Danach schlief sie mit beiden. Die Männer waren zärtlich und kamen schnell. Sylvia weinte, der eine kochte ihr Pudding, der andere spielte Gitarre und sang:
Will ich in die Küche gehen
Und mein Süpplein kochen
Steht ein schwarz-rot Männlein da
Hat schon dran gerochen
Lala lala lalala lala lala lala
Sylvia verstand das Lied nicht; vielleicht hatte er es in der Psychiatrie gelernt. Das schwarz-rot Männlein war ihr unheimlich, es erinnerte sie an den Film Wenn die Gondeln Trauer tragen . Aber die dicken traurigen Männer waren freundlich, und sie war so dankbar dafür, dass sie schon wieder weinen musste. Beide hielten sie die ganze Nacht im Arm und wechselten sich ab, sie zu streicheln.
Am Morgen gingen sie in den Hofgarten und fütterten die Enten. Die dunklen Spiegelbilder der Blätter vibrierten auf dem Wasser. Sylvia fand ein Küken im Gras, gelb-braun gefleckt. Im Teich schwammen die Stockenten mit ihren anderen Küken, das verlorene fiepte und wollte zum Wasser, aber es fiel. Sylvia nahm es, es hatte kein Gewicht, sie spürte nur schabende Füße in ihrer Hand. Einer der dicken traurigen Männer schöpfte Wasser aus dem Graben und hielt es dem Küken vor den Schnabel, es nahm ein paar Schlucke, dann sank der Kopf zur Seite, von unten zogen sich dünne Lider halb über die schwarzen Augen. Der Körper bekam eine andere Elastizität und fühlte sich schwerer an. Die halb geschlossenen Augen glänzten weiter.
Sie begrub das Küken im Park. Als die erste Erde auf die glänzenden Augen fiel, dachte Sylvia an den Sterbenden im Wald von Oberkonnersreuth, sie sah ihn plötzlich vor sich liegen anstelle des Kükens, die Blasen blubberten auf seinem Gesicht, rote Milch, ihr Blubbern hörte nicht mehr auf. Sylvia ließ das kleine Grab des Kükens offen, sprang auf und rannte davon. Die dicken traurigen Männer riefen ihr nach, sie drehte sich nicht mehr um.
Zu Hause packte sie ihre Sachen, ließ zurück, was nicht in ihre Koffer passte, verabschiedete sich bei niemandem, fuhr mit dem Zug nach Berlin, schrieb sich an der FU ein, warf die schwarzen Klamotten in den Kohleofen, schnitt die gefärbten Haare ab, beendete ihr Theologiestudium und heiratete Martin Berger, der mit ihr nach Korsika fuhr, wo die Blätter der Pappeln im Wind klapperten und der würzige Duft der Bäume alles überdeckte.
Jetzt lehnte sie an der Heizung in der Diele ihrer Wohnung in Berlin und war vierzig Jahre alt und evangelisch und verlor den Verstand, an einen magnetischen Quader, während ihr Mann die Zeitung holte. Crazy Orcus, zwang der Quader sie zu denken, Crazy Orcus. Aber was hatte sie vorher gedacht? Ihr wurde klar, dass sie überhaupt nichts wusste, überhaupt nichts, überhaupt nichts. Als sie noch ein Kind war, hatte die Kugelhaftigkeit der Welt sie verwirrt, sie konnte dem Untergrund nicht mehr trauen, nachdem sie erfahren hatte, dass sie, aus einer anderen Perspektive betrachtet, auf dem Kopf stand. Sie fragte sich damals, warum noch nie eine UNO-Konferenz einberufen worden war, die festlegen würde, wo die Oberseite der Welt und wo die Unterseite war, wer also offiziell kopfüber lebte und wer nicht, und auch heute wusste sie immer noch nicht, wo der richtige Standpunkt war. Argumente gab es für alles.
Sie schaute auf den Ventilator, der die karge Heizungswärme in der Diele verteilte.
»Was ist denn eigentlich der Standpunkt von Gott? So ganz allgemein?«, fragte sie in die Stille hinein, ins flirrende Auge des Ventilators. Sie lauschte dem Flappen so lange, bis sie darin eine Stimme hörte. »Gott hat keinen Standpunkt«, raunte die Stimme.
»Gott ist also gar nicht religiös?«, fragte Sylvia. »Nicht mal moralisch?«
»Gott ist bodenlos«, wisperte es im Ventilator.
»Aber die Zehn Gebote«, sagte Sylvia, »das sind doch Gottes Standpunkte.«
Der Ventilator rauschte.
Sylvia starrte in die kreisenden Flügel aus Stahl. Plötzlich überlegte sie, ob sie ihr Gesicht hineinhalten
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