Teufelsberg: Roman (German Edition)
sie.
Sie wusste nicht, warum der Quader sie dazu zwang. Die Zeit im Crazy Orcus war zwanzig Jahre her. Die Erinnerung ähnelte einem Splitter, der eines fernen Sommers in die Hornhaut des nackten Fußes eingewachsen und in der Tiefe noch dunkel zu ahnen war, aber nicht schmerzte.
Sie roch das rostige Wasser am Heizungsventil. Wenn sie den Kopf hob, konnte sie durch das Dachfenster den Morgenhimmel sehen, ein flirrendes Schild. In ihrem Gedächtnis stampfte Musik, und wenn sie zwischendurch die Augen schloss, verwandelten sich die Ringe und Blitze, welche die Helligkeit auf der Netzhaut hinterlassen hatte, in die Graffitischlaufen im Treppenhaus des Crazy Orcus, und der Splitter des fernen Sommers trat schwarz aus der Haut. Sie war wieder dort, sie war neunzehn. Auf den Stufen saßen Leute, bleich geschminkt, und warteten auf Einlass. Einige hatten sich Schlingpflanzen aufs Dekolleté gemalt oder die Schläfen und Wangen so schattiert, dass ihre kahlen Köpfe wie Totenschädel aussahen. Keiner lächelte.
Sylvia bahnte sich den Weg durch die Menge. Sie hatte ihre roten Haare noch röter gefärbt, die Lippen lila, sie trug einen schwarzen Spitzenblazer, darunter Hosen aus Pannesamt. Der Türsteher ließ sie rein.
Auf der Tanzfläche spielten Goethes Erben den Song »Wo ist Iphigenie?«. Darin verspeiste eine Familie ihre Tochter. Der Sänger schwang seine langen schwarzen Haare, sprang mit nacktem Oberkörper durch zischenden Trockeneisnebel und brüllte mit kehliger Stimme sein Lied. Die Tänzer stampften ihre trägen Schritte in den schwarzgelackten Betonboden.
Sylvia durchquerte die Disko, dann die Werkstatt des Lederschneiders, der hinter der Disko lebte, klopfte an die schallgedämpfte Tür seines Wohnzimmers und trat ein. Das Zimmer hatte nur ein Bett, einen Schrank, ein Tischchen voller Haschischpfeifen und einen Ausblick auf das Gefängnis, die Justizvollzugsanstalt St. Georgen, die nachts im fahlgelben Licht lag. Das Licht verschluckte die Farben und verwandelte alles in Sepia, in eine Welt aus vergilbten Postkarten, aus der die Leute erschrocken herausguckten, als wüssten sie, dass sie inzwischen tot waren.
Während Sylvia mit dem Lederschneider schlief, schrie sie, als wollte er sie töten. Sie wehrte sich, er hielt sie fest, und hinterher wusste sie nicht, ob sie der Akt beglückt oder gequält hatte. Sie spürte keine Freude, keine Geilheit, nur dumpfes, süchtiges Entsetzen.
Trotzdem ging sie immer wieder hin, verkleidet und bleich, durchquerte die Höhle mit den stampfenden Menschen und ließ sich aufs Bett pressen und schrie und sah in das rote Gesicht des Lederschneiders, das über ihrem auf und ab wippte.
Der Lederschneider bewahrte sein Haschisch im Toilettendeckel auf, in den ausgehöhlten Gummipfropfen der Klobrille. Manchmal verkaufte er welches, das meiste rauchte er mit Sylvia. Die Droge pulsierte durch ihre Gedanken und machte Luftschlangen aus der Zeit und ihrem Körper, und ständig lachte sie los, ihr Leben wurde weit fortgeblasen und kringelte sich in der Ferne.
Morgens zog sich der Lederschneider einen blauen Trainingsanzug an, sammelte die Gläser und Flaschen ein und fegte die Disko, und nichts erinnerte mehr an das nächtliche Stampfen. Der Geruch nach Bier und Rauch verschwand in der hellen Luft, die schräg von oben durch die geöffneten Fenster drang.
Zwei Jahre lang ging Sylvia zu ihm. Sie mochte den Lederschneider nicht, sie mochte sich selbst nicht, sie wusste nicht, was für ein Leid sie Nacht für Nacht aus ihrer Seele presste. Sie sah keinen Sinn in dem Leid, keinen Ursprung. Sie hatte es immer gut gehabt. Vorne in der Disko hörte sie keiner, und auch nicht hinten im Gefängnis. Auf den Mauern lag Stacheldraht.
Eines Nachts erzählte der Lederschneider von einem Mann, den er zusammengeschlagen und weggeschafft hatte. Über dem blutig zermatschten Gesicht des Mannes warf der Atem kleine rote Blasen. Ähnlich wie die Milchblasen, stellte Sylvia sich vor, die sie als Kind mit dem Strohhalm in ein Milchglas gepustet hatte. Sie war bekifft, sie kicherte. Erst als der Lederschneider schilderte, wie er den Mann vergraben hatte, im Wald bei Oberkonnersreuth, und wie die ersten winzigen Erdbrocken auf den Blutblasen getanzt hatten, bevor diese platzten, wurde Sylvia still.
Am Morgen wusste sie nicht, ob das ein Traum war oder die Wirklichkeit. Sie ging nicht mehr in den Crazy Orcus. Trotzdem blieb sie in den Semesterferien in Bayreuth; sie wollte nicht zu ihrer
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