Teufelsberg: Roman (German Edition)
Gesicht wieder holzig. Falko tippte mit dem Zeigefinger an die Tischkante und sprach weiter.
»Der Dachdecker war hin und weg. Der hat alles genauso gedeutet, wie ich wollte. Der hat von der Entdeckung des Schattens gefaselt, von Verantwortung blabla. Nach drei Monaten war mein Kumpel im offenen Vollzug. Und mich hat er mit Pornos versorgt, bis ich draußen war. Pornos sind wichtig, damit du nicht knastschwul wirst. Du kannst machen, was du willst, irgendwann vergisst du, wie eine Möse aussieht, und fängst an, den Brüdern auf den Arsch zu glotzen. Du vergisst auch, wie eine Möse riecht. Das ist das Schlimmste. Du atmest die ganze Zeit bitteren Männergestank, Scheiße, Sperma, Schweiß, Blut. Wenn ich morgen in Zürich die Schecks einlöse, lasse ich mir ein Callgirl ins Dolder kommen, und dann werde ich die ganze Nacht zwischen ihren Schenkeln liegen und an ihrer Möse riechen. Nur riechen, sonst nichts. In der Cardea war ich erschrocken, als ich Annika das erste Mal von hinten sah. Hast du mitgekriegt, was die für einen süßen Arsch hat? Du wohl kaum, Kommissar. Aber ich. Werd nicht knastschwul, habe ich mir gesagt. Ich wollte mich zwingen, wegzusehen, als mir einfiel, dass Annika eine Frau ist. Ich sage dir, der Arsch von der kleinen Annika Fechner, der hat mich begnadigt, erlöst und gerettet, der hat mich wieder zum Menschen gemacht. Vielleicht war das der Grund, warum ich sie nicht ausgenommen habe wie Beate und Lotti. Der Arsch und die Frage nach dem Kuckuck. Ich bin noch nie zuvor weich geworden. Betrügen ist ein hartes Geschäft. Vielleicht das härteste. Du musst alles aufgeben, das Mitleid, die Wahrheit, dich selbst. Du hältst mich sicher für skrupellos, Kommissar. Das bin ich nicht. Die alten Tanten hier tun mir leid. Beate war sicher mal scharf. Eine Provinztussi, aber scharf. Und die alte Lotti ist immer noch ein junges Mädchen. Aber ich weiß nicht viel über Menschen. Muss ich auch nicht. Ein Gespräch ist wie ein Pingpongspiel, ich gebe nur den Ball zurück. Die Leute fühlen sich dann verstanden. Aber da ist kein Verständnis, da ist nur ein weißer Ball, klack, klack. Du hast es gut, Kommissar. Du und all die anderen hier. Man bemüht sich um euch, will euch retten. In jeder Visite, in jeder lächerlichen Therapiestunde. Du musst nur deine Seele öffnen, schon wird dir Heilung hineingeschoben, wie ein Nutellabrötchen. Aber mich füttert keiner. Du hast einfach nur Glück, du alter Schwachkopf, du darfst im Land der Ehrlichkeit verdämmern. Weißt du, was ehrlich ist? Essen, trinken, pissen, scheißen. Beim Ficken hört die Ehrlichkeit schon auf, und beim Denken verschwindet sie ganz. Wer von uns ist der größte Lügner? Vielleicht Xaver, weil er immerzu denkt. Denken heißt erfinden, also lügen. Ist Xaver besser als ich, weil er krank ist? Er soll für Vosskamp einen Aufsatz schreiben und lässt mich das machen. Ist das korrekt? Lotti lügt sich die Hucke voll. Beate missbraucht ihre Tochter. Annika verschweigt die Wahrheit. Sylvia spielt die Heilige. Diese Leute sind nicht krank, die sind schlecht. Ist das Böse in Wahrheit das Kranke? Oder ist das Kranke ein Teilbereich des Bösen, den man ausgekoppelt und umgedeutet hat, um das Böse zu entkräften? All diese Mörder und Kinderschänder, die angeblich einen an der Klatsche haben, in Wahrheit sind sie doch böse. Aber ich bin wenigstens ehrlich zu mir. Betrügen ist ein hartes Geschäft.«
Er stand wieder auf, ging an seinen Schrank und packte seine Kleider in die Tasche. Bevor er sein Rasierwasser einsteckte, öffnete er den zitronengelben Flakon und besprühte sich den Hals. Ein frischer, leicht rauchiger Duft verbreitete sich im Raum.
»Balmain. Das war mein Lebensretter im Knast. Balmain und meine Schuhe haben mich an den erinnert, der ich mal war. Auch wenn ich bis heute nicht weiß, wer ich war. Im Knast bist du jedenfalls ein Tier. Du hast dir die Scheiße selbst eingebrockt, aber deshalb leidest du nicht weniger. Im Gegenteil, du leidest mehr, stummer als jemand, der unschuldig ist, weil du immer denkst, du hast kein Recht dazu.«
Die Tür ging auf, und Schwester Dagmar trat ein.
»Sind Sie fertig mit dem Frühstück?«, fragte sie. »Na, Herr Bialla, was sitzen Sie da in die Decke gehüllt? Dann wollen wir Sie mal anziehen, bevor der Professor zur Visite kommt. Wären Sie so freundlich, Herr Sprenger?«
Falko nickte und verließ das Zimmer. Er ließ sich in einen der Sessel am Ende des Flures fallen und betrachtete das
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