Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Teufelsfrucht

Teufelsfrucht

Titel: Teufelsfrucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Hillenbrand
Vom Netzwerk:
er viele Wege zu Fuß zurücklegen konnte, vor allem den zur Arbeit.
    Wenn es nicht gerade schüttete oder schneite, verließ er allmorgendlich sein kleines Häuschen in der Tilleschgass und überquerte die alte, steinerne Brücke über den Fluss Alzette. An diesem Morgen war es noch dunkel, und die kleine Gasse war menschenleer. Kieffer wandte sich hinter der Brücke nach links und erklomm die mit Kopfstein gepflasterte Rue de Trèves, die sich steil den Berg hinaufwand.
    Als er an der Stadtmauer angekommen war, gönnte er sich einen Blick zurück auf die den Stadtteil Grund dominierende, mit Scheinwerfern angeleuchtete Abbaye de Neumünster und die darüber thronende Oberstadt. Dann schlug er einen Haken, um über eine kleine Stiegein der sogenannten Wenzelsmauer, der Befestigungsanlage, hinunter zum Fluss zu gelangen.
    Hier begann jener Teil seines Wegs, der Kieffer am liebsten war. Ein kleiner Pfad schlängelte sich an der Alzette entlang, bis in den Stadtteil Clausen. Die über dem Weg hängenden Ahornzweige und der Fluss mit seiner am rechten Ufer aufragenden Felswand übten stets eine beruhigende Wirkung auf ihn aus.
    Nach einigen Hundert Metern gelangte er zur Mousel-Brauerei, dem Zentrum Clausens. Um ihn herum drängten sich kleine Häuschen an den Felswänden. In den Faubourgs zu leben, dachte Kieffer, hatte ein bisschen Ähnlichkeit mit dem Leben in einem Schweizer Alpental. Man konnte von keinem Punkt aus den Horizont sehen. Auswärtigen wurde das meist nach einiger Zeit unbehaglich, doch Kieffer verspürte beim Anblick der steil aufragenden Hänge und der von Wehrgängen durchlöcherten Kasematten stets ein Gefühl der Geborgenheit.
    Er passierte die Brauerei und gelangte durch ein altes Stadttor auf die Rue Malakoff, die sich zum »Deux Eglises« emporschlängelte. Wenn ihm nach Trödeln zumute war, bestellte er im Pub an der Ecke gerne noch einen Kaffee und schaute dem morgendlichen Treiben zu. Heute aber war er viel zu früh dran.
    Als er an seinem Restaurant ankam, dämmerte es allmählich. Kieffer ließ den Blick über das verschlafene Clausen streifen, das sich unterhalb seines Restaurants erstreckte. Die Fachwerkhäuschen mit ihren viereckigen Türmchen lagen noch im Halbdunkel.
    Weiter gen Westen, wo sich die Oberstadt auf ihrem Felsplateau über die ville basse erhob, färbte die Sonne bereits die drei Spitzen der Notre Dame golden. Sie wares, die dem »Deux Eglises« zusammen mit der Clausener Kirche Sainte Cunégonde seinen Namen gab.
    Als Kieffer sich den Namen für sein Restaurant ausgedacht hatte, war dies mehr aus einer Laune heraus geschehen. Ähnlich wie jetzt hatte er vor dem am Hang gelegenen Lokal gestanden und den Blick über seine Stadt genossen, mit den zwei von hier gut sichtbaren Kirchen, eine zum Greifen nah, die andere weit entfernt.
    Nun fiel ihm auf, wie gut der Name nicht nur zu seinem Lokal, sondern zur ganzen Stadt Luxemburg passte – d’Stad, wie die Einheimischen sagten. Dort droben, in der hoch gelegenen Altstadt, residierte die prächtige Notre Dame. Wie schon seit Hunderten von Jahren gingen hier die wohlhabenden Luxemburger zur Messe, um danach bei ihrem Sonntagsspaziergang an den feinen Boutiquen und Cafés der ville haute vorbeizuflanieren.
    Hier unten hingegen kauerte die gebeugte, verwitterte Kunigunde, eine Kirche für die kleinen Leute, mit knarrenden Bänken und bröckelndem Stuck. Dass man das Clausener Gotteshaus ausgerechnet der Schutzheiligen der kranken Kinder geweiht hatte, war wohl kein Zufall.
    Die Faubourgs genannten Viertel im Alzettetal waren stets der dunkle Unterbauch der Stadt gewesen – eine Ansammlung von Gerbereien, Manufakturen und Fabriken, erfüllt von üblen Gerüchen und Lärm, voller Cholera und Tuberkulose. Grund und Clausen wurden bewohnt von Arbeitern, für welche die über ihnen liegende funkelnde Oberstadt zwar stets sichtbar, aber dennoch völlig unerreichbar blieb. Auch das städtische Zuchthaus hatte sich hier unten befunden, in Grund. »Am Gronn sinn« war früher ein Synonym für »im Gefängnis sitzen« gewesen – wer in der ville basse wohnte, der hatte nichts zu lachen gehabt.
    Über Jahrhunderte waren die Menschen in den Faubourgs für Luxemburgs Mächtige praktisch unsichtbar gewesen. Wie sonst ließ sich erklären, dass sie Eisenbahnbrücken und Autobahnen über das Alzettetal gespannt hatten, sodass den Bewohnern der ville basse bis zu diesem Tag stets Züge und Pkws über die Köpfe hinwegdonnerten?
    Inzwischen war

Weitere Kostenlose Bücher