Teufelsfrucht
die Sonne über den EU -Gebäuden auf dem Kirchberg aufgegangen und ließ die Alzette funkeln. Kieffer würde, das spürte er, hier niemals wegziehen. Er kannte jedes Häuschen, jede Gasse. Es müsste viel passieren, dass er freiwillig fortginge.
Zumal es seit einiger Zeit aufwärtsging mit der Unterstadt: Fabrikschlote und Abdeckereien waren verschwunden. Künstler und Bohemiens hatten den Einheimischen ihre verfallenen Häuser abgekauft – zunächst zu Schnäppchenpreisen, denn viele waren nur zu froh gewesen, ihr heruntergekommenes Viertel endlich verlassen zu können.
Nun waren Grund und Clausen nicht mehr schäbig und schmutzig, sondern, wie Kieffer unlängst einer deutschen Zeitung entnommen hatte, »pittoresk und pulsierend«. Der Autor hatte sich gar zu der Behauptung verstiegen, Clausen sei auf dem Weg, eines der angesagtesten Szeneviertel Europas zu werden.
Auf der einen Seite freute sich Kieffer als gebürtiger Unterstädter natürlich, dass es seinem Viertel nun deutlich besser ging als früher – und dass sich der Wert seines elterlichen Hauses am Fluss binnen fünf Jahren fast verdoppelt hatte.
Auf der anderen Seite machte ihm der rasante Aufstieg der Unterstadt Angst. Wenn es sich sogar schon bis in deutsche Zeitungsredaktionen herumgesprochen hatte, dass Clausen auf dem Weg nach oben war, dann konnten jeden Moment Busse voller Touristen dort auftauchen.
Kieffer riss sich vom Anblick des Stadtpanoramas los und schloss die Vordertür auf. »Wenn Reisegruppen aus Texas mein Restaurant stürmen«, murmelte er zu sich selbst, »dann ziehe ich vielleicht doch noch weg.«
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14
Kurz nach acht klopfte Vatanen an die Tür des »Eglises«. Er sah etwas zerknittert aus, aber für den EU -Beamten war dies freilich auch eine recht frühe Stunde, dachte Kieffer. Soweit er wusste, ging der Finne kaum je vor zehn Uhr ins Büro, und nur selten blieb er allzu lang. In der Regel saß Pekka jeden Abend um 18 Uhr an Kieffers Bar und ließ sich den Greiveldanger Rivaner schmecken, mit dem er seinen Feierabend gerne offiziell einläutete.
Vor der Tür parkte Vatanens betagter Volvo-Kombi. Kieffers Freund machte eine einladende Handbewegung in Richtung des schwarzen Ungetüms. »Steig ein, Monsieur. Wir müssen ein ganzes Stück fahren.«
»Wo wollen wir denn hin?«, fragte Kieffer und ließ sich in den Beifahrersitz sinken.
»Nach Hohenheim.«
»Ist das in Deutschland?«
»Ja, bei Stuttgart, Universität Hohenheim. Max-Planck-Institut für Lebensmitteltechnologie. Dort arbeitet unser Mann.«
»Dein Bekannter macht da was genau? Ist er Chemiker?«
Vatanen nickte und startete den Volvo, der etwas schwerfällig den kleinen Kiesweg zur Straße hinabrollte. »Klaus Scheuerle, Doktor der Chemie und der Biologie. Studium in den USA und der Schweiz. Summa cum laude et cetera pp. Stellvertretender Institutsleiter. Er arbeitet des Öfteren für uns, für die STOA .«
Kieffer stöhnte. »Eine weitere kryptische EU -Abkürzung.«
»Genau. Steht für Scientific Technology Options Assessment. Die Abteilung überprüft, was passiert, wenn man ein genetisch verändertes Lebensmittel oder Saatgut zulässt – was passieren könnte. Aber auch, welche Auswirkungen Taschencomputer auf traditionelle Familienstrukturen haben. Ich glaube, der allgemein gängige Begriff dafür ist Technikfolgenabschätzung.«
»Klingt gar nicht uninteressant.«
»Nein, ist es auch nicht – im Gegenteil. Zum Teil faszinierendes Zeug. Schade nur, dass es keiner liest.«
Nachdem sie Luxemburg-Stadt verlassen hatten, fuhren sie ein gutes Stück auf der Autobahn Richtung Osten. Bei Mannheim bogen sie nach Süden ab, Richtung Stuttgart. Die Straße war erfreulich leer, in Baden-Württemberg waren noch Sommerferien. Vatanen trat das Gaspedal durch.
»Ist dein Freund vertrauenswürdig? Wird er uns helfen?«
»Ich würde ihn eher als Arbeitsbekanntschaft bezeichnen. Bisschen schräger Vogel, aber wir kennen uns schon über zwei Jahrzehnte. Ich denke, er ist okay. Wir hatten schon als wissenschaftliche Mitarbeiter des Öfteren Kontakt. Haben sogar einmal einen Aufsatz über Saatgut zusammen verfasst. Und als ich dann beim Landwirtschaftsministerium in Helsinki war, haben wir uns immer auf irgendwelchen internationalen Konferenzen getroffen. Und uns gegenseitig unter den Tisch getrunken. Außerdem haben wir Scheuerle und seinem Institut in den letzten Jahren eine beträchtliche Zahl an EU -Aufträgen zugeschanzt. Wir sind einer der wichtigsten
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