Teufelsfrucht
Streitmacht.
Größere Restaurants besaßen einen chef de partie mit eigener Mannschaft – und zwar für jeden wichtigen Posten: gardemanger, potagier, saucier, entremetier, poissonnier und so weiter. Im »Eglises« fungierte jeder im Prinzip als das, was man in Profiküchen als tournant bezeichnete – als Springer. Wenn die Bestellungen im Dutzend hereinkamen, musste jeder alles machen.
Kieffer gefiel diese körperlich sehr anstrengende Art zu arbeiten dennoch viel besser als die riesigen Küchenbürokratien, in denen er über zehn Jahre seines Lebens verbracht hatte. Nach seiner Kündigung im »Renard Noir« war er selbst einige Jahre Souschef gewesen, in einem Pariser Fischrestaurant namens »La Houle«.
Mitte der Neunziger hatte das Lokal im Marais als angesagtestes Meeresfrüchtelokal der Stadt gegolten. Als nur dem chef de cuisine verantwortlicher Küchenvize hatte Kieffer insgesamt 15 Köche unter sich gehabt, dazu eine kaum überschaubare Zahl von aides de cuisine, die im Akkord Langusten knackten, Doraden schuppten, Lachse filetierten, Austern aufbrachen und eimerweise fond de homard und bouillabaisse herstellten. Ständig musste man Lagerbestände kontrollieren, die Qualität der Vorprodukte prüfen, vorlaute Postenchefs maßregeln, Kellner scheuchen und darauf achten, dass die schwarzarbeitenden und schlecht ausgebildeten sans-papiersnicht wahllos teure Edelfische zersäbelten, sodass man die Fetzen nur noch für den Fondtopf verwenden konnte. Selbst zu kochen – das nach Kieffers vielleicht etwas zu romantischer Vorstellung Essenzielle an seinem Beruf – stand als Souschef nicht auf dem Programm. Er hatte den Job nur mit einer großen Menge Sancerre und allerlei Tabletten ertragen. Zuletzt war er nervlich am Ende gewesen.
Von der Autobahn kommend schlängelte sich Kieffer auf die das Europaviertel durchschneidende Avenue Kennedy und fuhr dann den Südhang des Kirchbergs hinunter, zum Restaurant. Es war ein schöner Abend, und seine Terrasse war bereits ordentlich gefüllt. Er stellte den Wagen ab und eilte die Treppe zur Küche hinauf.
Dort war seine frischgebackene Vizechefin gerade dabei, einen letzten Blick auf sechs Teller voll dampfendem Kuddelfleck zu werfen, die auf einem Ausgabetablett neben dem Speisefahrstuhl standen. Claudine entfernte mit ihrem torchon noch einen Soßenspritzer vom Tellerrand und rief: »Tisch sechs marschiert!« Dann wandte sie sich Kieffer zu. »Xavier, hier ist die Hölle los. Gerade ist eine Zehnergruppe Deutsche reingekommen, à la carte natürlich und mit allerlei Sonderwünschen.«
»Es tut mir leid, ich hab auf der Autobahn festgesteckt.«
»Warst du einkaufen? Die Vorratskammer ist ziemlich leer. Ich musste bereits die Träipen von der Karte nehmen, weil wir kein frisches Blut mehr haben. Und alles mögliche andere Zeug ist auch aus.«
»Besorge ich morgen früh, ich war heute bei Esteban in Bitburg.«
Sie schaute erstaunt. »Das argentinische Schnuckelchen? Aus dem Fernsehen? Woher kennst du den denn?«
»Wir sind alte Freunde«, knurrte Kieffer. »Ich erzähle es dir nachher. Und jetzt gib mir Arbeit, Chefin. Du hast das Kommando.«
Die nächsten vier Stunden vergaß Kieffer Esteban, Boudier und die Ereignisse der vergangenen Tage und konzentrierte sich aufs Kochen. Es war schon fast eins, als sie endlich selbst zum Essen kamen.
Kurz bevor die Küche zumachte, baute Kieffer stets eine kleine Tafel im Speiseraum auf, eingedeckt wie ein Gästetisch. Dort konnte das Küchenpersonal nach der Arbeit noch ein wenig zusammensitzen und die Reste vertilgen. Heute gab es Bouneschlupp, in Scheiben geschnittenen Rinderbraten und dazu Tiirtech, ein mit Sauerkraut und Speckstücken vermischtes Kartoffelpüree.
Mit Claudine sprach er nun den nächsten Tag durch. Sie sah müde aus. »Versteh mich nicht falsch, Xavier, aber … dauert das noch länger?«
»Was genau meinst du?«
»Deine ausgedehnte Reisetätigkeit. Du bist der Chef, du kannst natürlich machen, was du willst.« Sie lächelte schief. »Aber du bist auch das größte Arbeitstier. Keinerkann so schnell Teller rauskloppen wie du. Ohne dich läuft es nicht rund.«
Kieffer nickte und versuchte dabei, verständnisvoll dreinzublicken, obwohl er mit seinen Gedanken bereits wieder ganz woanders war. Er war fasziniert von dem, was Esteban ihm über Foodscouts erzählt hatte, und wollte unbedingt mehr über den mysteriösen Keitel in Erfahrung bringen. Kam von ihm die gelbe Frucht, mit der Boudier
Weitere Kostenlose Bücher