Teufelsfrucht
deckungsgleich? Lebte Keitel überhaupt noch, oder war er wegen seines Wissens um die verbotene Frucht ermordet worden, genauso wie Boudier?
Kieffer war klar, dass er zunächst mehr über den Hüetli-Forscher Wyss herausfinden musste. Er ging in sein Büro und gab Wyss’ Namen in eine Suchmaschine ein. Viele Treffer förderte das nicht zutage – interessant erschien ihm lediglich der Eintrag auf der Seite eines großen Kongressveranstalters, in dem Gero Wyss auftauchte. Offenbar war der Schweizer einer der Hauptredner bei einem in wenigen Tagen stattfindenden Kongress mit dem Titel »Die Zukunft des Food Designs«.
Der Event fand in Genf statt und war nach Angaben des Veranstalters »das weltweit größte Get-together der internationalen Food-Design-Szene«, ein »Pflichttermin« für Lebensmittelchemiker, Hersteller von Fertigprodukten und andere Industriegourmets. Zum Rahmenprogramm gehörten diverse Ausflüge, darunter eine »kulinarische Bootsfahrt« auf dem Genfer See.
Als Kieffer weiter nach unten scrollte, griente ihm plötzlich ein gut gelaunter Esteban in vollem Küchenornat entgegen. Neben ihm auf dem Foto war ein teigiger Mittfünfziger mit fahlem Teint zu sehen, der mit leerem Blick in die Kamera starrte. Die Bildunterschrift lautete: »Die Jahrhundertköche Leonardo Esteban von Ritterdorf und Alois Hambichler verwöhnen Sie mit fantasievoller Showküche der Extraklasse.« Der Kongressveranstalter hatte offenbar Estebans Küchenshow Fantazzo gebucht und diese vom Zirkuszelt auf ein Ausflugsboot verlagert. Kieffer stellte sich vor, wie Esteban und sein Kumpan den versammelten Flavouristen und Chemikern gehobene Convenience-Küche servierten, während sich diese über neuartige Möglichkeiten der Fertigung synthetischer Tiefkühl-Sushis unterhielten. Es war ein unerfreuliches Bild, aber ein stimmiges.
Kieffer druckte sich die Rednerliste aus und las das Kongressprogramm mit einer Mischung aus Interesse und Ekel. Auf der dreitägigen Veranstaltung würden eine Vielzahl von Chemikern, Biologen und Juristen über die Feinheiten des Food Design referieren. Schon bei den Titeln der Referate drehte sich Kieffer der Magen um: »Frischekur für Gefriergetrocknetes – ein kulinologischer Ansatz«, »Erhöhte Mouth Satisfaction durch Guanylate« oder »Das Off-Flavour-Problem holzbasierter Fruchtaromen«. Wyss war einer von drei Hauptrednern und sollte den Fantazzo-Dinnerabend mit einem Vortrag zum Thema »Food Design in der öffentlichen Wahrnehmung« garnieren.
Viel mehr Informationen zu Wyss fand er nicht. Er vermutete, dass das nicht am Internet lag, sondern an seinen begrenzten Computerkenntnissen, aber diese Einsicht half ihm auch nicht weiter. Er griff zum Telefon und wählte erneut Valérie Gabins Handynummer. Diesmal ging sie nach dem zweiten Klingeln ran.
»Ja? Xavier?« Im Hintergrund hörte Kieffer Kammermusik und angeregte Unterhaltung. »Moment, ich geh kurz auf den Balkon, ich bin auf einem Empfang.«
»Sorry, dass ich dich störe. Hast du meine Nachricht schon abgehört?«
»Ja, hab ich. Es tut mir sehr leid, Xavier. Ich bin gerade auf einer Veranstaltung der Association Culinaire Française, und die Leute sprechen von nichts anderem. Hast du schon von der Beerdigung gehört?«
»Nein. Wo wird die sein?«
»Offenbar nicht in der Champagne, sondern in seiner Heimatstadt in Südfrankreich.«
»In Arles?«
»Genau. Es wird ein ziemliches Brimborium geben. Sie wollen ihn im Amphitheater aufbahren, es gibt ein Ehrengeleit von Reitern aus der Camargue. Die ganze Küchenprominenz wird anwesend sein, schließlich hatte er zwei Sterne. Die ACF will ihm vermutlich posthum einen Ehrentitel verleihen. Alle sind schrecklich aufgeregt. Perigot von ›Le Monde‹ ist auch hier. Er hat mir gesagt, dass es morgen einen größeren Artikel zu Boudiers Tod geben wird.«
»Hat er denn schon etwas herausgefunden?«
»Ich glaub nicht, es wird wohl eher ein ausgedehnter Nachruf. Paul Boudier, einer der wichtigsten zeitgenössischen französischen Köche, Gewinner des Bocuse d’Or und so weiter.«
»Kannst du mir seine Nummer geben? Ich würde gerne mit Perigot sprechen. Ich habe ein paar neue Details herausgefunden.«
»Und die willst du in der Zeitung lesen?«
»Nicht gleich, aber vielleicht später. Ich würde gerne ein paar Informationen mit ihm austauschen, das meiste aber für mich behalten.«
»Das nehm ich mir auch immer vor, wenn ich mit diesem Kerl telefoniere, Xavier. Meine Erfahrung ist
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