Teufelskanzel - Kaltenbachs erster Fall
Aufdruck ›Gute-Laune-Becher‹ aus dem Schrank, hängte einen der Beutel hinein und goss heißes Wasser darüber. Dann holte er eine Wolldecke, schlang sie um seine Schultern und stellte den Küchenstuhl so vor den Heizkörper, dass er die Füße hochlegen konnte. Mit dem heißen Becher in beiden Händen wärmte er sich ein wenig, ehe er vorsichtig den ersten Schluck trank.
Als er sich wieder einigermaßen wohl in seiner Haut fühlte, holte er die Triskele aus seiner Hosentasche und rief sich in Erinnerung, was die ›Kristall‹-Verkäuferin gesagt hatte. War es möglich, dass diese fein geschwungenen silbrigen Linien eine Art Nazi-Symbol darstellten? Dieses verhängnisvolle Zeichen, unter dem Deutschland zu neuer Größe erwachsen sollte und stattdessen zum Symbol für das Todesurteil von Millionen wurde. Er spürte, wie seine Unruhe wuchs. Hatte der Tote ein Leben geführt, das nicht dem entsprach, was die Todesanzeigen und die Trauerreden von ihm berichteten?
Er drehte die Brosche um und betrachtete die Rückseite. Bisher hatte er die unscheinbaren Kratzer nicht weiter beachtet. Nun fiel ihm auf, dass die Einkerbungen eine gewisse Regelmäßigkeit aufwiesen. Er erkannte drei deutlich voneinander abgegrenzte, etwa zwei Zentimeter lange Striche, von denen zu beiden Seiten winzige Abzweigungen nach außen zeigten.
›Runen!‹, schoss es ihm durch den Kopf. Natürlich. Das mussten diese alten germanischen Schriftzeichen sein, die er vor Jahren bei seiner Norwegenreise auf Gedenksteinen und in Museen gesehen hatte. Er erinnerte sich, dass es sogar ein Alphabet gab.
Und das die Nazis verwendeten.
Trotz der Kälte spürte er, wie ihm plötzlich heiß wurde. Das alles war kein Zufall mehr. Ein merkwürdiger Fremder, der unbeobachtet am Grab eines zu Tode Gestürzten aufkreuzte, sich sonderbar verhielt und einen derart symbolträchtigen Gegenstand dem Toten mitgab. Gehörte Peter Bührer einer nationalistischen Gruppe an? Erst kürzlich hatte er gelesen, dass die sogenannten Neonazis dabei waren, ihre Strategie zu ändern und nunmehr äußerlich den Anschein normaler Bürger erwecken wollten. War dies der letzte Gruß eines faschistischen Kameraden?
Mit einem Schlag war Kaltenbach wieder hellwach. Er sprang auf und ging in das Zimmer, in dem sein Computer stand. Während der Rechner hochfuhr, goss er eine weitere Tasse Tee auf. Er stellte sie neben der Tastatur ab und hüllte sich in die Decke, so gut es ging.
Schon im ersten Artikel in einem der großen Internet-Lexika fand er, was er suchte. Es war, wie die Verkäuferin erzählt hatte. Vorsichtig trank er von dem heißen Tee, während er den Text auf dem Bildschirm las. Er schien auf eines der ältesten Symbole gestoßen zu sein, das bis in die Steinzeit zurückreichte. Es waren Beispiele aus Ägypten, Korea und aus der Türkei abgebildet, aber auch aus Skandinavien und Irland und aus mittelalterlichen Kirchen. Es gab Beispiele für Wappen, Ringe und Anhänger, auf der Nationalflagge von Sizilien zeigten drei Beine in verschiedene Richtungen.
Die meisten Abbildungen zeigten jedoch wie bei Kaltenbachs Exemplar Spirallinien, manche äußerst kunstvoll verschlungen, andere streng wie mit Lineal und Zirkel konstruiert, wie beispielsweise dem Abzeichen einer ehemaligen SS-Grenadier-Division, das tatsächlich an eine Art Hakenkreuz erinnerte mit nur drei der ansonsten üblichen vier Strahlenarmen.
Er druckte den Artikel mitsamt Bildern aus und gab über die Suchmaschine den Begriff ein weiteres Mal ein. Die meisten Hinweise führten auf Seiten von Schmuckherstellern, die das Sonnensymbol auf Broschen, Ringen, Anhängern und Ohrringen in unzähligen Varianten anpriesen. Wenn man den Werbesprüchen Glauben schenken durfte, wurde den Trägern die Kraft der Sonne gleich mitgeliefert.
Auch zum Thema ›Runen‹ gab es jede Menge, doch Kaltenbach war zu müde, um aufmerksam genug zu sein. Die Vergleiche der Einritzungen mit den verschiedenen Runenalphabeten führten zu keinem Ergebnis, er wusste nicht einmal, ob die Zeichen wirklich übereinstimmten.
Kaltenbach merkte, dass er so nicht weiterkam. Es war weit nach elf Uhr, als er entnervt den Computer ausschaltete. Vielleicht sollte er in den nächsten Tagen in die Stadtbücherei gehen und sich dort Zeit für eine gediegene Suche nehmen.
In der Zwischenzeit war es einigermaßen warm in der Wohnung geworden. Außerdem merkte er jetzt, dass er Hunger hatte. Auf einem Tablett richtete er einen kleinen Imbiss mit
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