Teufelsleib
Nachmittag. Ich habe schon bei meiner Tante angerufen, aber sie ist nicht zu Hause. Deshalb sind wir hierhergekommen.«
»Dann setzt euch mal, wir machen ein Protokoll. Wie alt seid ihr?«
»Ich bin zwölf«, sagte das Mädchen, ohne sich zu setzen, »und mein Bruder ist zehn.«
»Gut. Und jetzt setzt ihr euch bitte hin und erzählt mir alles. Wie ihr heißt, wo ihr wohnt …«
Sie nahmen Platz, nachdem das Mädchen seinem Bruder ein Zeichen gegeben hatte. »Ich heiße Lara, und das ist mein Bruder Tobias.«
»Und wie ist euer Nachname?«, fragte Brandt.
»Entschuldigung, Maurer.«
»Also gut, ihr beide heißt also Lara und Tobias Maurer. Und wo wohnt ihr?«
»In der Neusalzer Straße 75, im elften Stock«, antwortete Lara artig. Sie war ein hübsches Mädchen mit langen, rotblonden Haaren, grünen Augen und vielen Sommersprossen. Ihr Bruder Tobias, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Lara hatte, hatte noch kein Wort von sich gegeben. Brandt fragte sich, ober der Junge leicht autistisch war, zumal er ihn unentwegt musterte, als wolle er in seinem Gesicht oder seine Gedanken lesen.
»Ihr seid wegen eurer Mutter hier. Wann habt ihr sie zuletzt gesehen?«
»Gestern Nachmittag, das hab ich doch schon gesagt.«
»Kannst du dich noch an die Uhrzeit erinnern?«
»Hm, das war so um halb drei. Tobias und ich sind zusammen mit unserer Mutter weggegangen.«
»Moment, damit ich das richtig verstehe, ihr seid zu dritt weggegangen, aber eure Mutter ist nicht wieder nach Hause gekommen? Habt ihr euch getrennt? Ich meine, musste eure Mutter woanders hin als ihr?«
»Unsere Mutter ist zur Arbeit gefahren, und ich bin mit meinem Bruder einkaufen gegangen.«
»Verstehe. Ich nehme an, ihr lebt allein mit eurer Mutter, oder?«
»Nein«, antwortete Lara zögernd und senkte für einen Moment den Blick. »Unser Vater ist zu Hause und schläft. Aber verraten Sie ihm bitte nicht, dass ich Ihnen das gesagt habe.«
»Hatte er Nachtschicht oder …«
»Nein, er hat keine Arbeit. Er trinkt sehr viel Alkohol, aber das darf ich Ihnen nicht sagen, sonst …« Die letzten Worte schluckte sie hinunter. Die Angst war ihr ins Gesicht geschrieben.
Brandt sah sie verständnisvoll an. »Was hier besprochen wird, bleibt unter uns, darauf gebe ich euch mein Wort. Euer Vater ist also daheim, und eure Mutter geht arbeiten. Wo arbeitet sie denn?«
»In einer Gebäudereinigungsfirma, aber sie hat nie gesagt, wie die heißt. Sie kommt meistens sehr spät nach Hause, wenn wir schon schlafen. Wir werden nur wach, wenn Mutti und Papa sich laut streiten … Tobias und ich machen uns große Sorgen, weil sie in der Woche morgens immer zu Hause ist, wenn wir zur Schule gehen. Sie wollte auch heute Vormittag da sein, aber …« Lara sah Brandt hilfesuchend an, während ihr Bruder nach ihrer Hand griff, als wollte er sie trösten.
Brandt hatte aufmerksam zugehört, er spürte die Angst der beiden Kinder, Angst um die wichtigste Person in ihrem Leben. Und er konnte sich vorstellen, was Lara mit Streiten meinte. Er kannte die Gegend nur zu gut, das Hochhaus, eines der höchsten in Offenbach und einer der sozialen Brennpunkte schlechthin. Häusliche Gewalt war an der Tagesordnung, nicht in jeder Familie, aber die Quote war überproportional hoch. Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, es war ein breites Spektrum, das in diesem Haus abgedeckt wurde. Die meisten Familien verhielten sich friedlich, doch es gab einige, die immer wieder auffällig wurden, und einige, wo die Gewalt sich beinahe geräuschlos hinter geschlossenen Türen und Fenstern abspielte. Die Hauptleidtragenden waren in der Regel die Kinder.
Brandt strich sich über das Kinn. »Gibt es oft Streit zwischen euern Eltern?«
Lara nickte nur und hatte Tränen in den Augen, die sie nicht mehr zurückhalten konnte.
»Du brauchst nicht darüber zu sprechen, wenn du nicht willst. Am wichtigsten ist jetzt, dass wir eure Mutter finden. Eins würde mich noch interessieren: Was hast du eben damit gemeint, als du gesagt hast, dass sie in der Woche morgens immer zu Hause ist, wenn ihr zur Schule geht?«
Lara wischte sich die Tränen ab, holte ein Taschentuch aus ihrer Jacke und putzte sich die Nase. »Na ja, manchmal ist sie am Wochenende weg, dann sind Tobias und ich bei unserer Tante in Bieber, weil unsere Mutter nicht will, dass wir mit ihm allein sind.«
»Eure Mutter ist manchmal ein ganzes Wochenende lang weg?«, fragte er erstaunt. »Wisst ihr denn, wo sie dann
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