Teufelsleib
Ich wünsche mir, dass ich genauso gelassen reagiere, wenn es eines Tages bei mir so weit ist.«
»Können wir etwas für sie tun?«
»Nein, sie sagt, sie sei bestens versorgt, und das stimmt wohl auch.«
Spitzer lehnte sich zurück und drehte einen Bleistift zwischen den Fingern. »Ich werde sie besuchen …«
»Ruf aber vorher an. Nicht einfach hinfahren.«
»Okay. Dann widmen wir uns jetzt dem Tagesgeschäft. Du übernimmst Vladic, ich schließe mich mit Gernot und Kovac kurz. Bis später.«
»Hm.«
Brandt ging in sein Büro und wählte die Nummer von Elvira, die bereits nach dem ersten Läuten abnahm. »Was gibt’s, mein Lieber? Hast du etwa schon wieder Sehnsucht?«
»Ich wollte mich nur noch mal kurz melden. Ich werde Kovac ein weiteres Mal vernehmen, danach übergebe ich die Sache an dich und deine Abteilung. Einverstanden?«
»Hatten wir das nicht schon gestern besprochen?«
»Stimmt. Ich wollte nur deine Stimme hören. Bin nicht besonders gut drauf.«
»Was ist los?«, fragte sie mitfühlend.
»Weil ich nachher zu Frau Jovanovic fahren muss, weil ich Bernie eben gesagt habe, was mit Nicole ist, und und und …«
»Schatz, du schaffst auch das, glaub mir. Heute Abend gehen wir ins Kino oder irgendwohin, wo wir abschalten können. Was hältst du davon?«
»Wenn ich früh genug hier rauskomme …«
»Außer Vladic und Jovanovic liegt doch nichts weiter an. Oder doch?«
»Nein, nur noch ein bisschen Schreibtischarbeit.«
»Na also. Ich bin in Gedanken bei dir. Ich habe gleich einen Termin bei Gericht und muss los. Du schaffst es schon.«
»Ich weiß, aber ich wollte es von dir hören. Danke. Bis nachher.«
Es war lange her, dass er sich so melancholisch gefühlt hatte. Bis vor zwei Tagen war die Welt für ihn trotz zweier ungeklärter Fälle weitestgehend in Ordnung gewesen, doch die Ereignisse hatten sich innerhalb von etwas mehr als vierundzwanzig Stunden überschlagen. Um elf Uhr wollte er sich den Kroaten bringen lassen, um ihn noch einmal zu verhören, vorher würde er sich die Fotos ansehen, die die Kollegen von der Kriminaltechnik in dessen Wohnung gefunden und auf Brandts Schreibtisch gelegt hatten. Fotos, die zu belegen schienen, dass Vladic die Wahrheit gesagt hatte. Fotos von ihm, seinen Eltern, den Großeltern und seinen Schwestern, als alle noch in einem Dorf in der Nähe von Tuzla lebten. Neben den Familienfotos gab es noch andere, die Soldaten zeigten, die in die Häuser stürmten – und auf zweien davon war auch Ivan Jovanovic abgelichtet.
Als seine Familie auf bestialische Weise umgebracht wurde, war Vladic fünfzehn Jahre alt gewesen, seine Schwestern vierzehn und siebzehn. Er selbst hatte mit unglaublich viel Glück überlebt, wobei Brandt sich nicht sicher war, ob das Leben, das Vladic nach diesem entsetzlichen Trauma führen musste, mit Glück zu bezeichnen war. Vladic war auf eine andere Art getötet worden, als er fünfzehn war, und heute, mit zweiunddreißig, sah er mindestens zehn Jahre älter aus, die Haare waren grau, und in das Gesicht hatten sich tiefe Falten eingegraben. Ein trauriger, ein verbitterter Mann, der keine Freude mehr fand. Der allein lebte und laut eigener Aussage nie eine Beziehung geführt hatte.
Über dem Betrachten der Fotos vergaß Brandt die Zeit, und es war bereits Viertel nach elf, als sein Telefon klingelte. Die Zentrale.
»Ja?«
»Ich habe hier unten einen Jungen und ein Mädchen, die behaupten, ihre Mutter wäre nicht nach Hause gekommen. Soll ich sie hochbringen lassen?«
»Ja, meinetwegen.«
Er legte die Fotos beiseite und wartete, bis eine junge Beamtin mit zwei Kindern sein Büro betrat. Brandt stand auf und nickte der Beamtin zu, die sich wortlos entfernte und die Tür hinter sich schloss.
»Hallo«, sagte er und reichte erst dem Mädchen, dann dem Jungen die Hand. »Ich bin Hauptkommissar Brandt. Was kann ich für euch tun?«
»Unsere Mutter ist nicht nach Hause gekommen«, sagte das Mädchen, eine zierliche Person von vielleicht einem Meter fünfzig. Sie hatte eine zarte Haut, trug wie ihr Bruder Thermohose, Stiefel, Daunenjacke und eine Mütze. Schon auf den ersten Blick machte sie einen intelligenten Eindruck, und da war noch etwas, was Brandt an diesem Mädchen faszinierte, ohne dass er zu sagen vermocht hätte, was es war. Es war, als umgäbe dieses Mädchen eine Aura, die sie beschützte. So, wie sie, so schien es, ihren kleinen Bruder beschützte.
»Hm, wie lange ist sie denn schon weg?«
»Seit gestern
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