Teufelspfad
hatte.
Er ging in die Küche und goss Milch in einen Becher. Er fügte Schokoladensirup und ein Päckchen löslichen Kaffee hinzu, stellte den Becher in die Mikrowelle und wartete, bis er heiß war. Er brauchte den Zucker, die Energie. Trotz Taylors Versicherung, dass alles gut war, würde er auf sie warten. Wenn sie nach Hause kam, hatte sie bestimmt Hunger – vielleicht auf etwas zu essen, vielleicht auf ihn. Er aß eine Banane und trank seinen Milchkaffee. Die Wärme breitete sich in seinem gesamten Körper aus, und der Becher lag angenehm heiß in seinen eiskalten Händen.
Zurück im Wohnzimmer schaute er nach, wer während seines Telefonats mit Taylor angerufen hatte. Erleichtert sah er, dass es Wendy Heinz gewesen war. Endlich. Wendy war die Grafologin, die er angeheuert hatte, um sich die Nachricht aus dem Wohnwagen anzusehen. Ajin tachat ajin – eine sehr wörtlich gemeinte Botschaft.
Seine Begeisterung wuchs, als er die Nachricht von Wendy abhörte.
In Wendys Stimme lag eine gewisse Euphorie. „Ich bin die Seiten durchgegangen, die Sie mir geschickt haben, und Sie werden nicht glauben, auf was ich dabei gestoßen bin. Rufen Sie mich an, sobald Sie können.“
Wie spät war es? 22:30 Uhr. Noch nicht zu spät für einen Anruf. Er kannte Wendy, sie war eine Nachteule. Trotz der langen Tage, in denen sie als Gutachterin vor Gericht aussagte und an der University of California unterrichtete und nebenbei noch hervorragende Bücher über Grafologie im Strafrecht schrieb, arbeitete sie in ihrer Freizeit an einem Roman. Freizeit bedeutete in ihrem Fall früh am Morgen und spätabends. Wann immer sie etwas Zeit und Ruhe von ihren alltäglichen Pflichten fand.
Er wählte ihre Nummer. Wendy nahm beim ersten Klingeln ab. Ihre Stimme klang sehr fröhlich.
„Dr. Baldwin! Ich bin so froh, dass Sie mich so schnell zurückrufen konnten.“
„Dieser Nachricht konnte ich wohl kaum widerstehen. Was haben Sie für mich?“
Er hörte sie in Papieren blättern. „Vermutlich ein bisschen mehr, als Sie erwarten. Haben Sie etwas zum Mitschreiben?“
„Solange Sie mir versprechen, es nicht zu analysieren, ja.“
Wendy lachte. „Der war gut, Doc. Okay, los geht’s. Der Brief, den Sie mir geschickt haben, war so kurz, dass es schwer ist, sich daraus einen umfassenderen Eindruck zu verschaffen. Abgesehen davon, dass eine ausgeprägte Rechtsneigung auf mangelnde Impulskontrolle und einen Hang zu Wutausbrüchen hindeutet. Aber deshalb habe ich Sie nicht angerufen. Ich mache diesen Job schon seit sehr, sehr vielen Jahren. Ich habe schon viele Handschriften gesehen und bin bei vielen Fällen als Gutachterin hinzugezogen worden. Es hat so lange gedauert, bis ich Sie zurückgerufen habe, weil ich etwas in einer alten Fallakte nachschauen musste. Irgendetwas an dieser Handschrift kam mir nämlich … seltsam vertraut vor.“
Baldwin wurde von Aufregung gepackt, sein Herz schlug ein paar Takte schneller. „Was meinen Sie mit vertraut?“
„Nun, ich hatte das Gefühl, sie schon einmal gesehen zu haben. Und mein Gefühl hat mich nicht getrogen.“
„Warten Sie, Sie erwähnten eine alte Fallakte. Sie haben von diesem Mörder schon einmal eine Schriftprobe gesehen?“
„Das kann ich nicht mit absoluter Sicherheit sagen, deshalb habe ich einen Kollegen gebeten, meinen Fund noch einmal zu überprüfen. Er stimmt mit mir überein. Wir gehen von der Annahme aus, dass es sich um die Handschrift Ihres Mörders handelt. Ohne live zu sehen, wie er vor meinen Augen auf ein Stück Papier schreibt, kann ich nicht beweisen, dass er es ist. Aber ja, ich habe diese Schrift schon einmal gesehen. Sind Sie bereit, sich ein paar Notizen zu machen?“
„Aber immer. Legen Sie los.“
„1995 habe ich an einem Fall in North Carolina gearbeitet. Es ging um eine Frau, die am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom litt. Zumindest glaubten wir das. Sie hatte eine Vorgeschichte, verletzte jeden in ihrer Nähe, ihre Kinder, ihren Mann, ihre Freunde. Irgendwann hat sie ihren Ehemann umgebracht – das war, nachdem er genug von ihrem Verhalten gehabt und sie fortgeschickt hatte. Der Prozess war kurz, und sie wurde zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt. Für die Urteilsverkündung hatte ihr mittlerer Sohn einen Brief ans Gericht geschrieben und darum gebeten, Milde walten zu lassen. Er war damals erst vierzehn Jahre alt. Offensichtlich hat der Richter seinem Wunsch entsprochen, denn er hätte auch gut und gerne die Todesstrafe verhängen
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