Teufelspfad
können. Sie wurde weggesperrt, und der Junge war plötzlich ganz allein auf der Welt. Er ist dann erst in einer Pflegefamilie untergekommen, später in einer Wohngemeinschaft. Er wurde immer gewalttätiger und ist irgendwann vom Radar verschwunden.“
„Er hat einen Brief ans Gericht geschrieben“, sagte Baldwin.
„Ja“, erwiderte Wendy. „Und meiner professionellen Einschätzung nach ist das die gleiche Handschrift wie die auf der Nachricht, die Sie mir gegeben haben.“
Baldwin kannte sich ein wenig mit Grafologie aus, aber nur mit den Grundlagen: Es war das Studium jeglicher grafischer Bewegung und konnte genutzt werden, um Einblick in den Verstand eines Menschen zu erhalten. Handschriften, Gekritzel, Zeichnungen, Skulpturen und Bilder – alles konnte auf Anzeichen untersucht werden, die auf bestimmte Persönlichkeitsmerkmale hindeuteten. Ausgeübt von jemandem, der sein Handwerk verstand, zeigte die Grafologie erstaunlich genaue Ergebnisse.
Er bat Wendy, sein Wissen kurz aufzufrischen, was sie nur zu gerne tat. Die gute Nachricht machte sie beide ein wenig schwummerig. Ob er damit den Pretender ausfindig machen könnte, würde man sehen, aber er hatte das Gefühl, den ersten Schritt gemacht zu haben, um seine wahre Identität herauszufinden. Endlich hatte der Pretender einen Fehler begangen, den sie ausnutzen konnten.
Wendy war eine gute Dozentin und erklärte kurz und prägnant. „Die Sache sieht so aus: Wir können sowohl unveränderliche Merkmale feststellen wie den IQ, Begabung, Temperament und Persönlichkeit, als auch Einblicke in Verhalten, Stimmungen, Vorstellungen, Motivationen und den körperlichen Zustand erhalten. Es gibt nur wenig, was wir mit einer ordentlichen Probe nicht über einen Menschen aussagen können. Die Handschrift ist so einzigartig wie Fingerabdrücke und Zahnschemata. Der Mensch lässt sich von drei grundlegenden Prinzipien leiten: körperlich, mental und emotional. Alle drei offenbaren sich in der Handschrift. Aber ich schweife ab. Der Grund, warum ich die Schrift von dem Brief aus dem alten Fall wiedererkannt habe, ist, dass ich hier das erste Mal ein echtes Beispiel des manischen D gesehen habe.“
„Das manische D. Charles Manson hatte das, wenn ich mich richtig erinnere. Das ist doch, wenn der senkrechte Strich des kleinen d sich sehr weit nach rechts lehnt, oder?“
„Genau. Manson und der Zodiac-Killer, selbst O.J. Simpson hat es. Es wird beinahe exklusiv von Psychopathen und Mördern verwendet. Von Gewaltverbrechern, den gefährlichsten Menschen überhaupt. In diesem Brief damals fand sich also das manische D, aber das war noch nicht alles. Die Handschrift wies außerdem eine unregelmäßige Schrägstellung auf. Bei den meisten Leuten neigt sich die Schrift in eine Richtung – nach links oder rechts oder ganz gerade von oben nach unten und in allen Variationen davon. Das hängt von unserer Stimmung und Persönlichkeit ab und davon, ob der Schreiber Links- oder Rechtshänder ist, aber normalerweise ist diese Richtung ziemlich konsistent. Seine jedoch war ein totales Durcheinander. Es wurde nicht eine Regel eingehalten – obwohl der Brief auf normalem linierten Papier geschrieben wurde, waren die Linien komplett ignoriert und die Ränder nicht eingehalten worden. Wir nennen den linken Rand die Gesellschaftslinie, und die hat er vollkommen missachtet. Die Buchstaben waren eng und der Druck auf das Papier so stark, dass es an einigen Stellen gerissen ist. Man musste kein Experte sein, um zu sehen, dass der Verfasser der Zeilen gewaltig verstört war.
Aber auch hochintelligent – die Ausdrucksweise war sehr gebildet, die Argumentation schlüssig. Aber die inkohärente Grundlinie sagte mir, dass ich es mit jemandem zu tun hatte, der geistesgestört war. Ich habe den Richter darüber informiert und überall Alarm geschlagen, wo ich nur konnte, aber damals hatte die Grafologie noch nicht den Einfluss, den sie heute hat.“ Sie lachte leise. „Und der ist immer noch verdammt gering. Ich hatte größte Probleme, sie dazu zu bringen, mir überhaupt zuzuhören. Der Fall kam aus einer sehr kleinen Stadt am Fuß der Berge von North Carolina. Der Junge war vierzehn, misshandelt worden und allein. Es gab nicht viele Programme, die sich um verstörte Kinder kümmerten, schon gar um den asozialen Sohn einer Mörderin. Nach den ersten Pflegefamilien und seiner Zeit in der betreuten Wohngruppe verliert sich seine Spur. Mehr ist in den Akten nicht zu finden. Jetzt wissen Sie
Weitere Kostenlose Bücher