Teufelszorn - Funkenfluch (German Edition)
hätte wecken müssen, blieb Er stumm, wie immer.
«Hier, schaut! Ein blendender Aufsatz über die Elemente. Arno vergleicht Aristoteles’ Vier-Elemente-Theorie mit der Lehre vom erdigen Rauch und dem wässrigen Dunst, und er vergleicht sie zudem mit der paracelsischen Drei-Prinzipien-Lehre vom idealen Schwefel, idealen Quecksilber und Salz. Und das alles in gebügeltem, geschliffenem Latein. Ich könnte es nicht besser. Bald ist er hier. Soll ich ihn loben?»
Er betrachtete eine Weile den Erlöser, dann rollte er den Bogen wieder auf und sprach sich ein Selbstlob aus. Der Junge war ein Pfiffikus geworden, dank ihm, dem Abt. Er hatte diesen Jungen aufgenommen, er hatte ihm eine Unterkunft gegeben und ihn ausgebildet. Das heißt nicht er ganz allein, da waren auch noch Lena und Ferdinand. Doch die klassische Bildung, das Latein, war sein Verdienst, ohne seine leitende Hand verstünde er nichts von dieser Sprache, und ohne seine schützende Hand wäre der Junge vielleicht obdachlos, ein Landstreicher, ein Vagant ohne Zukunft.
Oder hatte die Krone, die er sich da aufsetzte, das eine oder andere Juwel zu viel in den Zacken?
Er wiegte den Schädel hin und her, kratzte sich am Haarkranz und warf einen Blick auf die Rolle.
Keine Bescheidenheit jetzt!
Er hatte das Bestmögliche getan und würde es weiterhin tun, und den Rest würde er dem Allmächtigen anvertrauen – oder erledigte der Junge irgendwie von selbst, wie man nicht übersehen konnte.
Er war jetzt im Umbruch, halb Kind, halb erwachsen, hatte Hände wie zwei Schaufeln, aber noch ein weiches Kindergesicht, das überhaupt nicht mehr zu seiner Statur passte. Und hochgeschossen wie eine Birke war er in den letzten drei Jahren. Einzig sein dicht gelocktes Haar und die Augen waren unverändert, sie hatten immer noch Glanz und Frische wie vor neun Jahren. Wenn der Kerl einmal kein Herzensbrecher wurde!
Er holte tief Atem, tätschelte mit der Rolle zweimal den Bauch und strich sich gedankenverloren über die Oberlippe.
Vielleicht war es der Junge schon, gut denkbar war, dass er ihn schon einmal gerochen hatte, den süßen Frauenduft, dass er ihn schon einmal erduldet hatte, diesen schreienden Liebesschmerz. Zwar hatte er darüber noch nie ein Wort verloren, aber das wollte nichts heißen. Stille Wasser gründeten tief.
Sollte man vielleicht dieses Thema bei Gelegenheit aufgreifen?
Er legte den Bogen auf ein Tischchen, trat vor das letzte Gestell der Galerie und begann, mit dem Zeigefinger den Bücherreihen entlang zu fahren.
«Da ist er ja, der Ovid, Liebeselegien».
Bedächtig zog er ein kleineres Buch, ein Bändchen fast, aus dem Gestell und fing an, darin zu blättern. Das Papier war stellenweise gelblich und brüchig, als wäre es über eine Kerze gehalten worden, und manche Seiten drohten sich gar herauszulösen. Nach kurzer Prüfung einiger Darstellungen beschloss er, für die Lesestunde einen anderen Band von Ovid zu benützen, versorgte das für untauglich befundene Exemplar an seinem Platz und streckte die Hand nach einem Buch aus, zwischen dessen unbeschrifteten Deckeln er eine weitere Ausgabe der Liebeselegien vermutete.
Da riss plötzlich jemand die Bibliothekstüre auf und ließ sie mit einem Knall ins Schloss fallen.
Der Abt zuckte leicht zusammen, machte sich darauf gefasst, dass nun die Treppe zittern und die Gestelle beben würden.
Er atmete flacher und horchte.
Zwei, drei Sekunden geschah nichts, das jugendliche, frischfreche Donnern blieb aus, stattdessen begannen die Stufen zu quietschen und schwerfällige Schritte waren zu hören, Schritte wie die eines gewichtigen Bruders.
Langsam kamen sie näher.
Er seufzte leise und schlug sich mit der Rolle zweimal in die Handfläche.
Wusste man denn nicht, dass er während der Mittagsstunde nicht belästigt werden wollte?
Er entschied, bissig und böse wie ein Schlosshund zur Treppe zu sehen und dem Eindringling von der ersten Sekunde an zu zeigen, wie ungelegen und unerwünscht er war.
Ein Entscheid, den er sogleich bereute, als er erkannte, wer der Störenfried war.
Langsam, so schnell es ihm möglich war, kam er zum Vorschein.
Eine Glatze, eine dicke Nase, ein feister Hals, Schultern in schwarzer Kutte und ein wohlgenährter Bauch – Bruder Lorenz.
Stufe um Stufe wuchtete er sich hoch und keuchte, als überbrächte er die Nachricht vom Sieg in der Ebene von Marathon.
«Euer Hochwürden!»
Er stolperte in seinen Holzschuhen auf die Galerie und trat, ein versiegeltes Schreiben in
Weitere Kostenlose Bücher