Teuflisch erwacht
Kontrolle zu verlieren.
Die Fahrstuhltür glitt zum rechten Zeitpunkt auseinander. Ein großer Mann in gelbem Sakko stand im Aufzug. Marla schob den Rollstuhl über die Schwelle und grüßte ihn freundlich.
Anna blieb die Begrüßung im Hals stecken, die Angst formte einen Knoten aus ihrer Zunge. Sie entführten einen Menschen. War der Typ blind?
»Hilf mir mal, deinen Opa wieder richtig hinzusetzen.«
Ihren Opa? Das konnte nicht wirklich ihr Ernst sein. Marla spielte ihre Rolle echt gut. Waltraud war ein ganzes Stück nach unten gerutscht. Sie packten die alte Frau links und rechts, zogen sie hoch und Marla bettete sie im Kissen zurecht. Dem Mann schien nichts aufzufallen. Verträumt blickte er zur Decke. Der Fahrstuhl hielt im Erdgeschoss und Marla stürmte hinaus, doch sie bremste ebenso schnell wieder ab. Sie konnten kaum in dem Tempo durch die Eingangshalle rasen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen.
Anna rief sich auf ein Neues zur Ruhe. Jeder Schritt kostete Kraft, am liebsten wäre sie losgerannt. Mit weichen Knien kreuzte sie den Empfangsschalter. Die dickliche Frau sah nicht einmal auf, und auch die Menschen vor dem Kaffeeautomaten schienen ausreichend mit sich selbst beschäftigt.
Hallo? Hier wird gerade eine alte Frau entführt und bald getötet. Wie stumpf seid ihr eigentlich alle?
Was versuchten die Fingerless überhaupt zu beherrschen? Die Welt war längst vor die Hunde gegangen, auch ohne das Zutun der finsteren Magier. Dunkelheit regierte längst, denn niemand scherte sich um mehr als den eigenen Hintern. Aber die Ignoranz der Menschen war ihr Glück. Sie schafften es ins Freie, bevor Waltraud allmählich ihr Aussehen veränderte. Die Falten arbeiteten sich langsam zurück auf ihr Gesicht und weibliche Züge flimmerten durch.
Anna war zuerst durch die Tür getreten. Ihr Herz schlug so schnell, als wollte es keine Sekunde länger in ihrem Körper verweilen. Kalte Luft strömte in ihre Lungenflügel, während sie gierig danach schnappte. Ihre Stirn glühte und sie hieß das brennende Gefühl auf der Haut willkommen. Gott sei Dank hatte das Krankenhaus die Gehwege von Schnee befreit.
Marla beeilte sich hinter ihr her Richtung Parkplatz und holte sie auf den letzten Metern vor ihrem Auto ein. »Wir haben es geschafft«, sagte sie.
»Wir haben eine Frau entführt«, antwortete Anna. Ihre Stimme überschlug sich, denn ihr Blut tanzte Limbo. Ihr Kreislauf wusste nicht, in welche Richtung er stürzen sollte.
Marla schenkte ihr einen vorwurfsvollen Blick und kramte den Schlüssel aus der Manteltasche. Sie hievte Waltraud auf den Rücksitz des Wagens und scherte sich nicht darum, dass sie zur Seite kippte, bevor sie die Tür ins Schloss drückte.
Anna schlug die Hände vors Gesicht. Wenn die Polizei sie so anhielt …
»Steig ein«, schimpfte Marla und ging um den Wagen herum.
Anna blickte noch mal prüfend zu Waltraud. Die alte Frau saß wie ein Schluck Wasser in der Kurve auf dem Sitz. Der Anschnallgurt schnürte ihr in den Hals und sorgte für rote Striemen. Plötzlich bewegte sie ihren Kopf und ihre Blicke trafen sich. Sie sah Anna in die Augen.
Anna wandte sich ab. Bittere Flüssigkeit legte sich auf die Zunge, ihre Kehle brannte vor Übelkeit. »Sie weiß es«, keuchte sie.
»Und wenn, dann ändert das auch nichts mehr. Steig endlich ein.« Marla startete den Motor.
Anna raufte sich die Haare, fuhr sich über die Augen und stieg schnell in den Wagen.
Marla warf den Rückwärtsgang ein und das Auto schoss zurück.
Die Übelkeit schlug Wellen in ihrem Magen. »Marla?«, presste Anna hervor, bevor sie den Parkplatz verließen. Ihr müder Verstand hatte etwas Scheußliches erkannt.
»Was?« Auch sie klang zittrig nervös.
»Du solltest das Licht einschalten, bevor du auf die Straße fährst.«
Sie tauschten einen Blick. Ab welchem Zeitpunkt durfte man sich geisteskrank schimpfen? Wenn sich Verrücktheit auf Skalen messen ließ, hatten sie den Rekord der Tabelle längst gebrochen. Ihre Gehirne arbeiteten auf Sparflamme. Sie waren vollkommen durchgedreht, aber das war gut. Nur Psychos begangen einen Mord und nichts war sicherer, als dass Waltraud sterben würde. Sie würde ihr gottverdammtes Leben verlieren, an zwei Wahnsinnige, die sich in den Kopf gesetzt hatten, die Welt zu retten. Anna lachte auf. Die Situation war zum Schreien komisch, denn Kraft zum Heulen besaß sie nicht mehr. Und außerdem, wann hatten Weltretter je geweint?
15. Kapitel
Fehler 3.0
J onathan blickte in
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