Teuflisch erwacht
Fenster des Krankenzimmers, sah hinunter auf die Straße und wünschte sich, in einem der Menschen zu stecken, die da unten durch den Schnee eilten. Vermutlich besuchten sie Patienten. Keines der Schicksale war vergleichbar mit ihrer Situation. Möglicherweise besuchten einige von ihnen einen Sterbenden, aber das war okay. Allerdings war es nicht okay, eine Frau töten zu müssen. Vielleicht besuchte einer von ihnen ja Waltraud? Sie stieß das scharfe Schwert zur Seite, ehe es ihr Herz berühren konnte, und warf einen flüchtigen Blick auf die alte Frau, die bewegungslos in den Kissen lag. Wie eine Statue. Ausdruckslos, in ihrem Körper gefangen.
Moral war ein weitläufiger Begriff. Jeder Mensch auf diesem Planeten besaß eigene Wertvorstellungen und ein individuelles Gewissen. Es wurde durch Erziehung geprägt und aus Erfahrungen geboren. Das Leben fütterte es täglich. Wo ließen sich ihre Maßstäbe einordnen? Sie lebte in einer christlichen Welt, in der ein Leben alles bedeutete. Im Rechtskundeunterricht war einmal der Begriff Notstand gefallen. Er sagte aus, dass man auf eine Sache zerstörend einwirken durfte, wenn es notwendig war, eine gegenwärtige Gefahr abzuwenden und der drohende Schaden gegenüber der Einwirkung unverhältnismäßig groß war. Aber galt das auch für Menschenleben? War es richtig, einen Menschen zu opfern, um eine große Menge anderer Menschen zu retten? Eine Frage, die damals niemand gestellt hatte. Vielleicht sollte sie für sich die Frage einfach bejahen, ihrem knurrenden Gewissen erklären, dass sie aus Notstand heraus handelten. Doch Recht und Ethik gingen in ihren Prinzipien weit auseinander. Gott hatte einen wahrhaft schweren Job.
Marla kam zur Tür herein, zog einen Rollstuhl hinter sich her und riss sie aus ihren wirren Gedanken. Ihr Gesichtsausdruck spiegelte den Kampf wider, der auch in Anna tobte. Die unzähligen Muskeln konnten sich nicht entscheiden, welche Miene sie auf ihr hübsches Gesicht zaubern sollten. »Offensichtlich beginnt die Visite. Das war ein Spießrutenlauf. Wir sollten uns beeilen.«
»Aber es kann niemand herein?« Wenn sie das durchziehen würden, mit der Befürchtung, dass jede Sekunde jemand hineinplatzen könnte … Anna schüttelte sich.
»Nein, der Kräuterbeutel verhindert das, aber wir müssen irgendwie über den Flur kommen.«
»Wie willst du sie hinausschaffen?« Sie rieb sich die Schläfen. Die pochenden Kopfschmerzen ließen sich seit Tagen nicht vertreiben, und seit sie sich in den Schnee erbrochen hatte, explodierten sie förmlich.
»Ich werde einen Zauber anwenden. Er wird nicht lang halten, deshalb ist es wichtig, dass wir schnell wie der Blitz verschwinden.«
Natürlich, mit Magie. Was hatte sie erwartet? »Was für ein Zauber?«
Marla deutete auf Waltraud. »Ich werde sie optisch verändern. Allerdings ist es uns Hexen nicht gestattet, die Gestalt eines Menschen zu ändern. Ihr Körper wird gegen die Formel rebellieren. Wie gesagt, uns bleibt nicht viel Zeit.«
Sie wollte Waltrauds Gestalt verändern? Wie sollte das möglich sein? Anna hatte die magische Welt immer noch nicht richtig kennengelernt. Sie steckte noch in den Kinderschuhen und war weit davon entfernt, ein Teil von ihr zu sein. Warum musste es ausgerechnet ihr passieren? Weshalb blieb ihr keine Zeit, zu lernen? Sie trat an das Bett heran. Ehrlich gesagt sah Waltraud schon tot aus, zumindest nicht mehr lebendig. Doch wichtig war ohnehin nur, dass ihr Herz noch eine Weile weitertrommelte.
»Ich mach das allein.« Marla schlug die Decke zur Seite. Waltrauds magerer Körper stach in die weißen Laken. Das Pflegepersonal hatte ihr Kissen zwischen die Knie geklemmt, damit die Knochen nicht gegeneinander rieben und Druckstellen herbeibeschworen. Mit einem Geschick, das einer Krankenschwester alle Ehre gemacht hätte, setzte Marla die alte Frau aufrecht, zog sie zur Bettkante und bugsierte sie mit gekonntem Griff in den Rollstuhl. Als hätte sie ihre Lebtage nichts anderes getan, als alte, gebrechliche Frauen aus Krankenhäusern zu entführen. Hatte sie vielleicht etwas Ähnliches schon mal gemacht? Kannte sie Marla überhaupt? Vermutlich nicht, denn sie kannte nicht mal sich. Nicht mehr.
»Klapp die Fußteile aus und stell sie höher, sonst rutscht sie uns weg«, wies Marla atemlos an.
Anna bückte sich und tat, was sie verlangte. Das alles war ein einziger Albtraum.
»Super.«
Gegen diesen Ausdruck sträubte sich alles in ihr. Super war ein Lottogewinn, eine gute
Weitere Kostenlose Bücher