Teuflisch erwacht
Sebastians blasses Gesicht. In jungen Jahren hatte er einst genau wie er ausgesehen. Regungslos lehnte er gegen das Sofa, ein vager Schatten der Person, die er einmal gewesen war. Sein Sohn hatte sich eigenhändig zerstört. Dummer Junge. Ein lähmendes Gefühl kroch Jonathans Glieder empor und eine unglaubliche Last beschwerte sein Herz. Das Atmen fiel plötzlich schwer. Er konnte dieses Empfinden nicht beim Namen nennen, denn es verbrannte die Zunge. Trotzdem wusste er, dass es die Macht besaß, seine Pläne zu ruinieren. Wer seine Schwächen kannte, konnte sie bekämpfen und stärker werden als jemals zuvor. Er hatte dieses Gefühl schon öfter verspürt und ihm sogar zweimal im Leben nachgegeben. Törichte Anfängerfehler. Bilder der Vergangenheit brachen aus seinem Gedächtnis, sein schweres Herz zog sich kalt zusammen und schickte eisige Tränen hinauf. Sie schafften es nicht bis zu den Augen.
Das erste Mal, als er auf das Empfinden vertraut hatte, hatte er sich gewaltig zum Narren gemacht. Die schöne Gestaltwandlerin, der er das Leben geschenkt hatte, vergriff sich an seinen auserkorenen Talenten. Sie klärte ihre Vertrauten über den Umstand auf, wer und was er war. Obwohl er sie danach alle mit dem Tod bestraft hatte, war er mit leeren Händen nach Hause gegangen. Jonathan schüttelte sich innerlich. Damals war er in die Bredouille gekommen, sich Thea erklären zu müssen, und sein ganzes Leben hatte sich verändert. Seit diesem Zeitpunkt töteten die Fingerless auf humane Art und Weise und verzichteten auf einen sofortigen Fluch. Er hatte Thea erklärt, dass er nach starken Talenten suchte, die möglicherweise ein Leben verdienten. Menschen, die er für ihre Zwecke einspannen wollte, statt ihnen die Gaben zu rauben. Er hatte sie überzeugt, die Leute hinter den Talenten kennenzulernen, solang keine Gefahr von ihnen ausging, bevor sie sich entschieden, sie zu töten. Natürlich hatten sie sich immer zu Letzterem entschlossen, denn es gab keinen Menschen mit ausreichender Charakterstärke, dem sie das Leben gegönnt hätten. Aber der Rattenschwanz, den diese Halbwahrheit mit sich trug, währte bis zu diesem Moment. Er war vom eiskalten Killer zum freundlichen Mörderlein mutiert und alles wegen einer Frau.
Sebastian öffnete die Augen. Das kalte Blau seiner Iris glänzte wie ein kostbares Juwel. Er hatte sie von ihm geerbt und doch unterschieden sie sich von seinen. Er las die Schwäche in den Tiefen des Eises und erkannte die Verzweiflung, die er nie bei sich verspürt hatte. Wie fühlte es sich an, Todesangst zu haben?
Jonathan versank in einer weiteren Erinnerung. Eine eiskalte Kralle streifte den Platz, an dem sein Herz sitzen sollte. Der Gedanke an sie ließ ihn aufstöhnen. Er hatte ein zweites Leben verschont und den lächerlichen Fehler ein weiteres Mal begangen. Es war kurz vor ihrer Festnahme gewesen, als er beschloss, dass die wunderschöne Kleo nicht sterben durfte. Mit ihren langen, blonden Locken hatte sie wie ein Engel ausgesehen. Sie strahlte Stärke und Macht aus, besaß einen eisernen Willen und messerscharfe Sinne. Bereits bei ihrer ersten Begegnung war er der jungen Mutter und Seherin verfallen. Den Stein, den er mit dieser Entscheidung ins Rollen gebracht hatte, hätte ihm beinahe das Genick gebrochen. Jonathans Herz begann unruhig in der Brust zu trommeln und seine Finger schwitzten plötzlich. Wieso hatte sie ihm das angetan? Kleo war doch gar nicht fähig gewesen, jemandem auch nur ein Haar zu krümmen. Warum ihm? Sie hatte etwas in ihm berührt, von dem er nicht glaubte, es zu besitzen – seine Seele. Er hatte ihr viel versprochen und hatte jedes Versprechen wahr machen wollen. Diese Frau war eine Königin gewesen.
Er seufzte tief, doch es befreite ihn nicht von der tonnenschweren Last. Selbst viele Jahre nach dieser Zeit schnürte ihm der Gedanke an die liebliche Frau die Kehle zu. Jeder Atemzug schmerzte und brannte in den Erinnerungen. Kleo hatte ihm vertraut und ihn zurückgeliebt, obwohl sie wusste, dass er ein Mörder und Magier war. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte sie ihn als Erbe für ihre Gabe eingesetzt und er hatte nicht vorgehabt, ihr Vertrauen zu missbrauchen. Wie hätte er ihr auch etwas antun sollen? Selbst ihre Tochter war ein Tabu für ihn gewesen. Bis heute hatte er es nicht darauf angelegt, sie aufzusuchen und Rache zu üben, obwohl er wusste, wo er sie finden konnte.
Sebastian wandte den Kopf ab, steckte ihn zwischen die Knie und krümmte sich zusammen
Weitere Kostenlose Bücher