Teuflische List
sagte Moran. »Meinen Sie nicht?«
Jules nickte. Sie konnte noch nicht sprechen, wollte nicht einmal nachdenken; doch sie fragte sich ständig, was sich sonst noch in diesem Raum, dem Studio und der Dunkelkammer verbarg.
»Jules?«
»Ja«, sagte sie.
»Wollen Sie weitersuchen?«, fragte er.
»Nein«, antwortete sie. »Wir haben genug, um zu beweisen, dass Silas zumindest dort war, als Charlie …« Sie hielt inne; ihr blieben die Worte in der Kehle stecken.
»Ich weiß«, sagte Moran.
»Ich bin noch nicht einmal sicher«, fuhr Jules fort, »wie viel davon Abigail wirklich helfen wird. Immerhin hat sie die Fotos nie gesehen.«
»Ich denke, dass sie durchaus helfen könnten«, sagte der Priester. »Sie sind vollkommen neues Beweismaterial.«
»Vielleicht.« Jules seufzte. »Für Silas spielt es keine Rolle mehr.«
Immerhin war schon Gerechtigkeit für Ralph, Charlie und dessen Schwester geübt worden.
Von Abigail.
Jules schaute auf den Tisch und ließ den Blick dann noch einmal durchs Büro schweifen.
Sie erinnerte sich daran, wie ihr Bruder hier gearbeitet hatte, und an das Studio selbst mit seinen Lichtern, Schirmen und all der anderen Fotosausrüstung.
Sie schloss die Augen in der Hoffnung, diese Erinnerung an die Normalität in ihrem Kopf zu bewahren.
Stattdessen sah sie Silas auf dem Boden liegen, den Dorn in der Brust.
Es war das einzige Mal gewesen, dass sie Abigail um ihre Blindheit beneidet hatte.
56.
Abigail wartete bis nach Neujahr, bevor sie Jules verkündete, dass sie sich gegen eine Hornhauttransplantation entschieden hatte, bevor ihr Kind nicht geboren war.
»Das würde eine Vollnarkose bedeuten«, sagte sie, »und ich müsste die unterschiedlichsten Medikamente nehmen, von denen man nicht genau weiß, ob sie dem Kind schaden oder nicht. Außerdem wäre mir nach der Operation jede Anstrengung verboten, sodass man mir vermutlich zu einem Kaiserschnitt raten würde, aber ich will eine natürliche Geburt.«
»Aber wenn sie doch sagen, es sei sicher«, erwiderte Jules, »wirst du dein Baby sehen können.«
»Das ist nicht gesagt«, erwiderte Abigail. »Selbst wenn es gut läuft, wird eine Zeit lang noch alles verschwommen sein, verzerrt sogar, und ich würde ständig von einem Arzttermin zum anderen rennen müssen, was mit einem Baby sehr schwierig ist.« Sie atmete tief durch. »Und wenn du mich fragst, was wichtiger ist, meine Sehkraft oder mein Kind …«
»Keine Frage«, sagte Jules, »natürlich. Aber wenn …«
»Es gibt nichts, was du sagen könntest, woran ich nicht schon gedacht hätte.«
»Und was, wenn das Warten die Erfolgschancen verringert?«
»Das Warten macht überhaupt keinen Unterschied«, antwortete Abigail. »Das haben die Ärzte mir gesagt. DerSchaden wird sich nicht vergrößern, und manchmal ist es sogar besser zu warten.« Sie hielt kurz inne. »Aber selbst wenn dem nicht so wäre – es ist, wie du gesagt hast: keine Frage.«
»Also gut«, sagte Jules.
Die erste Anhörung in Abigails Fall fand zwei Tage nach Ollis erstem Geburtstag in der ersten Februarwoche im Central Criminal Court statt.
Bis zum letzten Augenblick, da Abigail in den Zeugenstand trat und aufgefordert wurde, sich zu erheben und sich zu der Mordanklage zu äußern, hatte Jules, die mit pochendem Herzen und feuchten Händen auf dem Zuschauerbalkon saß, schreckliche Angst vor dem, was ihre Schwägerin sagen könnte.
»Nicht schuldig«, sagte Abigail.
Jules setzte sich zurück, schloss die Augen und dankte dem Herrn.
Da sah sie wieder das Bild ihres Bruders vor ihrem geistigen Auge, sah, wie er auf dem Boden lag, sterbend, tot …
Sie schlug die Augen wieder auf, blickte zu Abigail hinunter und fragte sich wie schon viele Male zuvor, ob sie unter all der Trauer und Verwirrung tatsächlich Abigail irgendwie die Schuld an allem gab.
Doch sie wusste, dass dem nicht so war.
Je näher Abigails Geburtstermin rückte, desto weniger war sie an ihrem Fall interessiert.
»Ich muss mehr Zeit mit Ihnen verbringen«, sagte Philip Quinlan im April am Telefon.
»Die Hauptverhandlung findet doch erst Ende November statt«, erwiderte Abigail.
»Je besser wir vorbereitet sind, desto größer sind unsere Chancen für einen Freispruch.«
»Ich werde tun, was Sie von mir verlangen«, erklärte Abigail.
»Ich möchte, dass Sie sich mit Ihrem Strafverteidiger treffen«, sagte Quinlan.
»Und ich möchte mit Jules Kurse zur Vorbereitung einer natürlichen Geburt besuchen«, erwiderte Abigail.
»Sie
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