Teuflische List
schrie Abigail stumm.
Und dann war er geboren, ihr neuer Geliebter, und sie wusste, dass das Leiden sie getrogen hatte. Es war keine Bestrafung gewesen, denn es hatte ihr ihn gebracht.
Der Sohn von Phönix und Abeguile.
Ihr neuer Geliebter.
Abigail konnte nur seinen Schemen sehen, wollte aber nicht, dass jemand ihn ihr beschrieb. Aber sie konnte ihn fühlen, konnte mit den Fingern über jeden Millimeter seines Körpers streichen, ihn an die Wange drücken, an ihre Lippen, an ihre Brust. Sie konnte ihn füttern, seinen Strampler wechseln, ihn einatmen, schmecken und ihm von ihrer Liebe zuflüstern.
Doch selbst da wusste sie die ganze Zeit, dass es kam.
58.
Sie hatte die erste Transplantation Ende August, zehn Tage nach dem Geburts- und Todestag ihrer Mutter.
Zuerst war das linke Auge an der Reihe, das schwerer geschädigt war. Das rechte, hatte man ihr gesagt, würde frühestens in sechs Monaten operiert, eher noch in einem Jahr.
Da ihr Kind nun auf die Welt gekommen war, war Abigail mehr als bereit für die Transplantation; alle früheren Gedanken, was ihre Unwürdigkeit betraf, waren beiseite geschoben. Sie war nun selbstsüchtig und gierte danach, ihn zu sehen.
Thomas Graves.
Sie hatte den Namen gewählt, weil Silas ihr einmal erzählt hatte, dieser Name würde ihm gefallen; tatsächlich hätte er selbst lieber Thomas statt Silas geheißen.
»Was ist mit Zweitnamen?«, fragte Jules.
»Keine«, antwortete Abigail.
Namen, die sie beinahe gewählt hätte, gingen ihr durch den Kopf: Douglas, Charles, Edward, Paul – jeder von ihnen klang richtig für ihre toten Verwandten und Freunde, doch jeder von ihnen war durch die Schuld von Thomas’ Eltern gestorben.
Und nicht Silas. Das konnte sie nicht. Sie konnte dem Kind nicht den Vater nehmen und ihm dann den Namen als eine Art Trostpreis geben.
Deshalb hatte der Junge keinen zweiten Namen.
»Nur Thomas«, sagte sie.
Es war ein Wunder, dieses außergewöhnliche Geschenk des Sehens, das ein Fremder ihr mit seiner Hornhaut gemacht hatte. Abigail dachte an die Familie dieses schuldlosen Menschen und daran, was sie hatte durchmachen müssen, um diese Transplantation zu ermöglichen – und sie war unwürdig, und doch gelang es ihr wieder einmal, diese Gedanken beiseite zu schieben und weiterzumachen.
Vor ein paar Tagen hatte Philip Quinlan in Moorfields eine Änderung der Kautionsbedingungen durchgesetzt, ähnlich wie bei der Geburt, sodass sie für die Operation ins Krankenhaus gehen konnte.
Das war leicht, für sie zumindest, so leicht. Sie schlief ein, wachte auf, und alles war erledigt, und nur ein wenig Schmerz … Das war nichts, gar nichts, angesichts dieses Wunders, und alle waren freundlich zu ihr, und sie empfand tiefe Dankbarkeit und Demut. Doch nichts davon zählte so viel, wie es eigentlich hätte zählen sollen. Jetzt zählte nur, dass sie endlich Thomas sehen wollte.
Noch nicht. Erwarte noch nicht zu viel.
Man hatte ihr mehr als einmal gesagt, dass es noch lange Zeit dauern würde. Noch über Monate hinweg würde sie alles verschwommen sehen, und ihr Zustand würde mal besser, mal schlechter sein. Erst in einem Jahr würde man die Fäden ziehen, und fünfzehn bis achtzehn Monate später bekäme sie dann Kontaktlinsen. Außerdem würde sie regelmäßig Augentropfen zum Schutz vor Infektionen nehmen müssen. Zudem bestand die – wenn auch geringe – Möglichkeit, dass ihr Körper die neueHornhaut abstieß. Dann würden sie wieder von vorn anfangen müssen …
»Ich will nur eins«, sagte Abigail. »Ich will meinen Sohn sehen.«
Vorher.
Sie sah ihn verschwommen, aber sie sah ihn.
»Er ist wunderschön«, sagte sie.
Vater Moran war gekommen, um sie abzuholen und wieder ins Pfarrhaus zu bringen, wo Jules und Olli mit Thomas auf sie gewartet hatten.
Abigail trug noch immer eine Sonnenbrille, teilweise zum Schutz, teilweise aufgrund ihrer zunehmenden Lichtempfindlichkeit. Nachts musste sie ein schützendes Plastikvisier anlegen. Außerdem wässerte das Auge ständig, und alles war noch unangenehm verschwommen, aber zumindest der Nebel war weg.
In jedem Fall reichte es, um ihn zu sehen.
Gloria, sagte sie im Geiste.
Sie sang wieder und schrie nicht mehr.
»Ist er nicht wunderbar?«, fragte Jules leise.
Abigail saß auf dem Sofa und hielt das Baby in den Armen.
Langsam und vorsichtig hob sie ihn ein wenig höher, näher vor ihr Gesicht.
Sie schaute ihm in die Augen.
Die Hebamme hatte ihr einen Tag nach der Geburt gesagt, die Augen
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