Teuflische List
werden beides unter einen Hut bringen müssen, Abigail«, sagte der Anwalt, und anders als bei ihm üblich, war ihm diesmal sein Zorn anzuhören.
»Wenn es sein muss, dann tu ich’s«, sagte Abigail.
Einen Augenblick lang empfand sie so etwas wie Gelassenheit und eine tiefe Sehnsucht, ihr Kind zum ersten Mal zu sehen, ihn oder sie zu berühren. Schon vor der ersten Ultraschalluntersuchung hatte sie darum gebeten, ihr nicht zu sagen, was es werden würde. Mary Hine, ihre sensible, freundliche Psychologin, hatte versucht, sie zu bewegen, darüber zu reden, war aber gescheitert. Sie war mit vielem gescheitert, worüber sie gern mit Abigail diskutiert hätte.
»Das ist egal«, hatte Abigail ihr gesagt. »Ich konzentriere mich jetzt ganz und gar auf die Sicherheit und Gesundheit meines Babys.«
»Und die anderen Dinge, über die Sie nachdenken müssen?«
»Ich habe mich entschlossen, sie auszublenden«, antwortete Abigail.
»Entschlossen«, wiederholte Mary Hine.
»Ja. Ich mache das alles mit voller Absicht. Ich habe mich entschlossen, all meine Kraft in mein Kind einfließen zu lassen.«
»Ihres und Silas’ Kind«, verbesserte Mary Hine sie.
»Natürlich«, antwortete Abigail.
Und Silas’ Kind.
Regelmäßig wurde sie mit dem Gedanken konfrontiert, dass Silas Vater war, allerdings nicht auf tröstliche Weise, wie es bei Jules sein musste, wenn sie von Olli als Ralphs Kind dachte. Der Gedanke brachte die nicht zu verleugnende Furcht vor dem mit sich, was aus Silas geworden war und was vielleicht schon immer tief in seinem Innern geschlummert hatte. Wenn diese Gedanken kamen, schob Abigail sie oft gewaltsam beiseite, doch wenn sie mal nicht auf der Hut war, wurde sie noch immer von der alten und inzwischen unendlich traurigen Liebe zu Silas überwältigt, als wären all die schrecklichen Dinge nie geschehen – und danach kam unweigerlich stets die Schuld, schlimmer und stärker denn je, weil sie den Gegenstand dieser Liebe getötet hatte, den Vater ihres Kindes, und diese neue Schuld war schmerzhaft genug, dass sie sich manchmal danach sehnte, man möge ihr bei lebendigem Leib die Haut abziehen.
Niemand verstand sie wirklich. Sie versuchten es, bemühten sich redlich, ihr tapferer Freundeskreis, doch keiner von ihnen konnte verstehen, was es bedeutete, in jenen Augenblicken Abigail Graves zu sein, die in einem Kokon lebte, gestrandet und isoliert.
Und wartete.
57.
Bis es vorbei war, gestand sie sich selbst nicht ein, wie sehr sie gehofft hatte, es möge eine Tochter werden. Erst Monate später, in einem jener furchtbar düsteren Augenblicke, hatte sie erkannt, wie unlogisch die Befürchtung gewesen war, dass ein Junge wie Silas werden könnte. Doch der nicht minder schreckliche Gedanke, dass ein Mädchen nach ihr kommen könnte, bestand nach wie vor.
Killermutter. Muttermörder.
Mary Hine, Michael Moran und Jules – alle wollten mit ihr darüber sprechen.
»Es geht mir gut«, sagte sie ihnen.
Am 15. Juli brachte sie einen Sohn zur Welt, und es ging ihr alles andere als gut.
Nicht weil das Kind ein Junge war, nicht weil es sich um Silas’ Sohn handelte, sondern weil er ihr Sohn war, der Sohn der Frau, die seinen Vater getötet hatte. Und weil der Rest ihres Lebens außen vor geblieben war, solange er in ihr gelebt hatte – und nun war das vorbei. Nun war ihr Sohn aus ihrem Leib heraus und hatte die Welt betreten, diese schreckliche, schöne, beängstigende Welt. Und Abigail musste die Entscheidung treffen, die nicht nur ihr Leben, sondern auch das seine prägen würde. Das kam nun auf sie zu.
Alles kam auf sie zu – mit halsbrecherischer Geschwindigkeit.
Seine Geburt, vermutete sie später, als sie wieder denken konnte, hatte sich nicht nur in ihrem Leib, sondern auch in ihrem Verstand wie ein großes »Reißen« angefühlt. Die Schmerzen waren ihr durch und durch gegangen, und sie hatte sie willkommen geheißen, hatte sich ihnen geöffnet und sich für kurze Zeit befreit gefühlt.
Gloria, sang sie im Geiste und frohlockte, noch während sie in den Nebel hineinschrie, weil diese Qual endlich das war, was sie verdiente, weil sie den Vater des Kindes vernichtet hatte, Jules’ Bruder, Ollis Onkel, und Mama und Papa und Eddie, vergiss sie nicht, und die Ärzte gaben ihr Schmerzmittel, die sie verweigerte, und Jules neben ihr versuchte, ihr mit dem Atmen zu helfen, versuchte, es leichter für sie zu machen, hielt sie für elend und hilflos und dachte nur an das Kind und den Kampf …
Gloria!,
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