Teuflische List
Abigail dieses kindliche Gebet aufgegeben hatte und von ihrer Tante und ihrem Onkel fortgezogen war – und nur in Zeiten, da ihre Einsamkeit schlimmer wurde als ihre Schuldgefühle –, hatte sie gebetet:
»Wenn du mir wieder jemanden schickst, den ich lieben kann, werde ich gut zu ihm sein, und ich werde alles tun, was er von mir verlangt.«
Sie hatte nie geglaubt, dass Gott ihr tatsächlich jemanden schicken würde, weil sie es nicht verdiente.
Aber dann war er gekommen, ihr Phönix.
Sie hatte diesen Begriff nachgeschlagen, um sicherzugehen, dass er passte. Die erste Definition mochte sie nicht, weil sie sich auf den legendären Vogel bezog, der sich alle fünfhundert Jahre selbst in Brand gesteckt hatte, um dann aus seiner Asche aufzustehen. Doch Feuerbedeutete Schmerz, und Abigail wollte Silas nicht mit etwas Schmerzhaftem in Verbindung bringen.
Die zweite Definition war ihrer Meinung nach perfekt: Eine Person oder ein Gegenstand, der alles andere an Schönheit übertrifft.
Das traf auf Silas zu, ohne jeden Zweifel.
Als er sie das nächste Mal »Abigail-Abeguile« nannte, als sie nach dem Sex nackt nebeneinander im Bett lagen, antwortete sie darauf, indem sie ihn ihren Phönix nannte.
»Das gefällt mir«, sagte Silas und dankte ihr, als hätte sie ihm ein Geschenk gemacht.
»Wie kannst du mir dafür danken?«, fragte sie.
Er schaute sie mit mehr Liebe in den Augen an, als sie je bei einem Menschen gesehen hatte.
»Du hast ja keine Ahnung«, antwortete er.
»Ahnung wovon?«, fragte Abigail.
»Was es für mich bedeutet, dich zu haben.«
»Aber ich weiß, was du für mich bedeutest«, entgegnete Abigail.
»Und was?«, fragte er.
»Alles«, antwortete Abigail.
Der Blick der grünen Augen wurde noch intensiver; sie schienen von innen heraus zu leuchten.
»Sag mir, dass ich dir immer vertrauen kann.«
»Immer«, versicherte sie ihm.
»Früher bin ich auf schreckliche Weise verraten worden«, sagte er.
»Ich werde dich niemals verraten.«
»Ich liebe dich, Abeguile«, sagte Silas.
»Ich liebe dich, Phönix.«
15.
In jenem Juli zog sie bei Silas ein, weniger als drei Monate nach ihrem ersten Treffen. Sie zog in das Haus, das zuerst seinen Eltern, dann seiner Mutter allein und anschließend seiner Schwester gehört hatte, bevor es gänzlich in seinen Besitz übergegangen war. Sie schliefen im großen Schlafzimmer, im Doppelbett, in dem Silas zuerst mit Patricia und dann mit Jules geschlafen hatte – obwohl er es Abigail nie erzählte. Auch von dem Grab im Garten sagte er ihr nichts, denn er hatte das Gefühl, Abigail würde diese Dinge vielleicht nicht verstehen, sodass sie der innigen Liebe schaden könnten, die sie für ihn empfand – und das war das Letzte, was er wollte.
Er verbrachte so viel Zeit mit ihr, wie er konnte, und machte sie mit seinen Lieblingsgeschäften, Lieblingscafés und Lieblingsrestaurants in und um Muswell Hill, Highgate und Crouch End bekannt. Er nahm sie mit zur Arbeit in sein Studio in der Edison Road, ermutigte sie, ihm bei Porträtsitzungen zu helfen, und erkannte, dass er ihr gar nicht erst sagen musste, keinen Unsinn mit seinen Geräten anzustellen. Dafür hatte sie viel zu viel Angst, irgendetwas kaputtzumachen, zumal ihre Mutter sie gelehrt hatte, wertvolle Dinge zu beschützen – namentlich das Cello. Was das betraf, ließ Silas ein Zimmer im Obergeschoss zu einem Musikzimmer umbauen. Er ermutigte Abigail zu spielen, und er liebte es, einfachnur dazusitzen und ihr zuzuhören, manchmal mehrere Stunden am Stück.
»Wird es dir nie langweilig, mir beim Sägen zuzuhören?«, fragte Abigail an einem Septembernachmittag, als sie sich auf klassische Fingerübungen konzentriert hatte.
»Nicht langweiliger als dir, wenn du mir im Studio zuschaust«, antwortete Silas. »Und du sägst nicht.«
Das fast schalldichte Zimmer, das Silas in Auftrag gegeben hatte, war an drei Wänden beige gestrichen; die vierte Wand zierte das Gemälde eines Dickichts, aus dem ein Paar goldener Augen hervorlugte.
»Ich glaube, die gehören einem Fuchs«, hatte Silas neckisch erklärt, als Abigail das Zimmer zum ersten Mal gesehen hatte; während der Arbeiten war es verschlossen gewesen, um sie zu überraschen. »Er ist den Jägern entkommen und lebt nun sicher und geborgen in unserem Wald, und …« Er hielt inne. »Was ist?«
»Es ist so schön.« Abigail betrachtete den hohen Lehnstuhl, den Notenständer, die Chaiselongue im Regencystil, die beiden anderen Stühle sowie die beiden
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