Teuflische List
sie mitfühlend an. »Karten und Programme sind bereits in Druck, und die Wohltätigkeitsvereine machen schon Werbung dafür.«
»Aber mit mehr Musikern hätten sie ein viel besseres Geschäft.«
»Nur dass Silas die Leute glauben gemacht hat, du wärst am Cello die größte Sensation seit Jacqueline du Pré«, erwiderte Charlie.
Das Geräusch, das Abigail ausstieß, war eine Mischung aus Schnaufen und Wimmern. »Das kann er doch nicht getan haben.«
»Okay«, sagte Charlie, »versuch es mit Hai-Ye Ni.«
»Silas hat nicht einmal von Hai-Ye Ni gehört … und falls das ein Versuch gewesen sein sollte, es besser zu machen, Charlie, ist es dir nicht gelungen.« Ihr Entsetzen wuchs. »Er hat nicht die leiseste Ahnung, was einen guten Cellisten ausmacht, ganz zu schweigen von einem Genie.« Flehentlich beugte sie sich vor. »Bitte sag mir, dass niemand diesen Unsinn glaubt.«
»Ich habe wohl übertrieben«, sagte Charlie.
»Hast du wirklich?«
»Ein wenig«, antwortete er.
»O Gott!«, seufzte Abigail.
Nagy erhob sich hinter seinem Schreibtisch, ging zur Couch, setzte sich neben Abigail und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Spiel das Adagio von Bach«, sagte er und strich ihr eine Haarsträhne aus den noch immer entsetzt blickenden Augen. »Und vielleicht etwas von Mendelssohn … Lieder ohne Worte .«
»Meine Güte«, sagte Abigail.
»Ich weiß«, seufzte Charlie.
»Nein, wirklich.« Abigail drehte sich zu ihm um. »Das ist ein Albtraum.«
20.
»Du wirst wunderbar sein«, sagte Jules eine Woche später im Buchladen.
»Ich werde überhaupt nicht wunderbar sein.« Abigail stand auf einer Leiter und staubte den Weihnachtsschmuck ab, der bereits seit einem Monat dort hing. »Wenn ich mein Bestes gebe, bin ich allenfalls … na ja, mittelprächtig.« Sie hielt beim Staubwischen inne und machte ein verdrießliches Gesicht. »Aber so wie ich mich fühle, werde ich richtig Scheiße sein.«
»Silas meint, du bist wunderbar.« Jules streckte sich und rieb sich den Rücken.
»Silas«, sagte Abigail bitter, »verwandelt sich allmählich in Mrs. Worthington.« Sie schaute zu Jules hinunter. »Alles in Ordnung, Jules?«
»Es geht mir gut. Hör mal, wenn du wirklich glaubst, was du gerade gesagt hast, wenn das wirklich die Hölle für dich sein sollte … vielleicht solltest du die Vorstellung dann absagen.«
»Wie könnte ich«, entgegnete Abigail, »wo es doch um hungernde, missbrauchte Kinder geht?« Sie streckte sich nach einer Girlande und wischte den Staub ab. »Wenigstens denen wird’s wohl egal sein, ob ich eine lausige Cellistin bin, solange sie etwas zu essen bekommen.«
»Du bist nicht lausig«, versicherte Jules ihrer Schwägerin. »Du bist sehr gut.«
»Ich bin nicht allzu schlecht, wenn ich in einem Ensemble spiele«, räumte Abigail ein, »aber ich bin keine Solistin.«
»Ist da nicht auch eine Pianistin?«
»Um mich zu begleiten, ja.« Abigail verzog das Gesicht. »Sie heißt Sara Ellis. Sie spielt großartig und ist sehr nett … und sie hat nichts getan, womit sie das verdient hätte.«
»Jetzt dramatisierst du die Sache aber«, sagte Jules.
»Nein«, widersprach Abigail und stieg die Leiter hinunter. »Man wird mich vielleicht nicht lynchen, aber ich glaube, wir können froh sein, wenn die Zuhörer und die Wohltätigkeitsorganisationen uns nicht wegen falscher Versprechungen verklagen.«
Am Abend der Aufführung, nach einem gänzlich verdorbenen Weihnachtsfest und einer ebenso trostlosen Silvesterfeier, war Abigail nach eigenem Empfinden ein krankes, zitterndes Wrack.
»Ich kann nicht«, sagte sie zu Silas, der in seinem Smoking umwerfend aussah.
»Sei nicht dumm«, erwiderte er.
»Sag ihnen, ich bin krank«, bettelte sie. »Sag ihnen, ich bin tot.«
»Abigail Allen Graves«, er packte sie an den Schultern, »du bist nicht nur lebendig und gesund, du wirst auch in …«, er schaute zur Garderobenuhr, »in dreiundzwanzig Minuten auf die Bühne gehen und traumhaft spielen.«
»Und in weniger als einer Minute«, sagte Abigail, wich einen Schritt zurück und löste sich von ihm, »muss ich mich übergeben.«
Das Auditorium war eine ziemlich gemischte Zuhörerschaft. Silas, Charlie, die inzwischen hochschwangere Jules und die Wohltätigkeitsorganisationen hatten jede Taktik genutzt, um Karten an den Mann zu bringen. Die Zuhörer verteilten sich auf die ziemlich unbequemen roten Sitze der Jerome Hall und applaudierten mit großzügigem Enthusiasmus, als Abigail und Sara
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