Teuflische List
die wegen ihrer Anrufe fast durchgedreht ist«, sagte er. »Also ist es für deinen Gemütszustand wohl ganz gut, dass es sich offensichtlich um einen Unfall gehandelt hat.«
Abigail dachte an die knappe Zeitungsmeldung.
Irgendwelche Einzelheiten waren nicht erwähnt worden.
»Wie kannst du dir so sicher sein?«, fragte sie.
»Weil ich dabei war«, antwortete Silas.
29.
Er hatte es ihr als reinen Zufall beschrieben – dass er just in diesem Augenblick auf der Elgin Avenue gewesen war –, doch von da an war es mit Abigails Seelenfrieden endgültig vorbei.
»Du bist in letzter Zeit dünn geworden«, bemerkte Silas zwei Wochen nach Maggie Blumes Tod. »Du bist schon fast wieder so dürr wie damals, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe.«
Sie spielte nun in jedem freien Augenblick Cello. Sie konnte es nicht mehr ertragen, Jules zu sehen. Bei mehreren Gelegenheiten hatte sie ihr gesagt, dass sie viel zu sehr mit Üben beschäftigt sei und ansonsten Silas im Studio zur Hand gehen müsse. Sie habe im Augenblick keine Zeit mehr, in den Laden zu kommen.
»Das ist doch nur Geschäft«, hatte Jules auf ihre lockere Art gesagt. »Hättest du denn nicht wenigstens mal Zeit, zu uns in die Wohnung zu kommen und ein bisschen Zeit mit Olli und mir zu verbringen? Wir vermissen dich.«
»Das werde ich«, hatte Abigail gelogen. »Sobald ich das neue Stück beherrsche, an dem ich arbeite.«
Es gab kein neues Stück. Nur eine willkürliche Ansammlung von Tönen, manchmal wild und aggressiv, manchmal schmerzhaft schön und zärtlich.
Kein Stück und kein Frieden.
Abigail ging nun häufiger in den Garten und blickte auf den Teich und die Bank, jenen Platz, von dem Silas behauptete, er habe dort gemeinsam mit seiner Schwester ihren Vater beerdigt.
Wenn es Abigail gelang, nachts zu schlafen, träumte sie entweder davon, in Frischhaltefolie gewickelt zu ersticken, während Silas tatenlos zusah, oder vom Hof der Allen’s Farm. Sie träumte von Eddie und dem kleinen Biest und von ihrer Familie, tot und sterbend.
Und schließlich hatte sie das Gefühl, als würde sie vor Schuld, Scham und Unglück platzen. Sie konnte das Alleinsein nicht mehr ertragen, und so ging sie in die Kirche.
Abigail war kein frommer Mensch. Ihre katholische Mutter, die den auf dem Papier protestantischen, in Wahrheit aber atheistischen Douglas Allen geheiratet hatte, hatte beschlossen, ihren Mann mehr oder weniger regelmäßig zu begleiten und sich nicht zu sträuben, seine »kirk« zu besuchen, solange es ihm nichts ausmachte, wenn sie Abigail zu ihrer Messe mitnahm, wann immer Douglas keine Lust hatte zu gehen.
»Gott ist Gott«, hatte Francesca irgendwann einmal gesagt.
Tante Betty und Onkel Bill hatten der Kirche von Schottland angehört, und so war ihre »kirk« für die Zeit, die Abigail in ihrem Haus verbracht hatte, auch ihre geworden. Doch wie auch immer, sie hatte fast ihr ganzes Leben lang gebetet: während ihrer Kindheit voller Inbrunst das Vaterunser und das Ave-Maria, und später, nachdem sie ihre Unschuld verloren hatte und aus Angst und in ihrer wachsenden Isolation, hatte sie einfach nur noch gebetet für den Fall, dass Gott vielleicht doch da seinsollte. Das aber hatte ihre Angst nur schlimmer gemacht, denn Er war da, und Er war auch an jenem Tag im Hof gewesen und auch vor ein paar Wochen, in all den Wochen voller schrecklicher Lügen, und dann …
Vergib mir, vergib mir, vergib mir …
Es war nie genug. Nie.
Nun, nachdem sie in den vergangenen Wochen einen Schock nach dem anderen erlitten hatte, war Abigail zu der Erkenntnis gekommen, dass sie eigentlich weniger Gott brauchte, um mit ihm zu reden, sondern jemanden, der durch sein Gelübde gebunden war. Sie brauchte jemanden, mit dem sie unbefangen reden und der sie nicht verraten konnte, solange sie sich ihm auf die vorgeschriebene Art näherte.
Oder aber Jules.
Mehr und mehr war da Jules – die sensible, großmütige Jules – und in Fortsetzung davon Olli, um die sich ständig Abigails Gedanken drehten.
»Ich bin egal«, sagte sie auf den Knien während der Beichte am Ende der dritten Maiwoche. »Ich zähle jetzt nicht mehr.«
Sie hatte St. Peter aus keinem besonderen Grund gewählt. Sie kam bloß regelmäßig daran vorbei, seit sie in Muswell Hill wohnte. Außerdem hatte die Kirche einen alten, betulich aussehenden Friedhof, und ganz allgemein sah sie einladender aus als die meisten Kirchen, die Abigail kannte.
»Segnen Sie mich, Vater, denn ich habe
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