Teuflische List
sich ein Glas Weißwein und lehnte sich zufrieden zurück.
Fünfzehn Minuten vergingen. Dreißig.
Abigail ging zu einem Telefon, rief im Studio an und hörte das Besetztzeichen – nicht die übliche Nachricht, dass sie in der Warteschleife sei. Sie versuchte es erneut, gab es dann auf und kehrte wieder an den Tisch zurück.Dort studierte sie zum dritten Mal die Speisekarte, überlegte, ob sie Hummer bestellen sollte oder nicht, stand wieder auf, ging zum Telefon und rief noch einmal an.
Das Studio liegt doch nur ein paar Blocks entfernt!, dachte sie verärgert, während sie die Straße entlangstapfte. Umso mehr Grund für Silas, ins Restaurant zu kommen, wenn das Telefon defekt war – egal wie »kompliziert« der Job auch sein mochte.
Sie hatte bereits die Schlüssel aus ihrer Handtasche geholt, doch die Kellertür mit dem kleinen Schild »Silas Graves« war unverschlossen.
Abigail stieß sie auf.
»Silas?«, sagte sie.
Das vordere Büro war leer, erhellt nur von einer Lampe.
Die Tür zur Dunkelkammer war verschlossen; das rote Licht darüber brannte.
»Silas?«, rief sie noch einmal. »Bist du da drin?«
Abigail wartete einen Augenblick. Sie machte sich zunehmend Sorgen. Normalerweise hätte sie den Raum nicht betreten, wenn das Licht darin brannte, doch unter diesen Umständen. Er könnte krank geworden sein.
»Ich komme jetzt rein«, rief sie …
… und öffnete die Tür.
Im selben Augenblick hörte sie einen wortlosen Schrei, als die süßlich riechende Flüssigkeit ihr in die Augen spritzte.
Sie schrie und riss die Hände hoch, um ihr Gesicht zu schützen.
Zu spät.
36.
Das Einzige, woran sie sich später aus den ersten Stunden erinnerte, waren die Schmerzen, das Entsetzen und Silas’ gequälte Stimme, die wieder und wieder jammerte:
»O Gott, was habe ich getan?«
Da waren auch andere Stimmen gewesen, freundliche, nüchterne Stimmen, und Finger, die ihr die Hände vom Gesicht nahmen, damit sie ihr helfen konnten. Sie überprüften, ob sie regelmäßig atmete und ob die ätzende Flüssigkeit, die in ihre Augen geraten war, auch ihre Kehle oder gar die Luftröhre verbrannt hatte, und … mein Gott, taten ihr die Augen weh. Sie hatte nie gewusst, dass etwas so sehr schmerzen konnte. Dann wurden ihre Augen mit irgendetwas ausgewaschen. Abigail wehrte sich, bevor man sie aus dem Studio, die Treppe hinauf und zum Rettungswagen trug. Dort wurde ihr ein Mittel gespritzt, das ihr gnädigerweise die Schmerzen nahm und sie einigermaßen ruhig stellte.
»Ihr Mann hat unter den gegebenen Umständen das Beste getan«, sagte eine Stimme im Whittington Hospital, als man Abigail die Augen mit Salzlösung auswusch. »Er hat sofort mit kaltem Wasser ausgespült«, fuhr die Stimme fort. »Das war zwar nicht so gut wie das hier, aber ein Anfang.«
»Ich habe ihm gesagt, er soll mir die Augenauswaschen«, sagte Abigail und versuchte, nicht zu weinen; dabei war sie sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt noch weinen konnte.
Plötzlich erinnerte sie sich, dass sie ihn angeschrien hatte.
Dass Silas einfach nur dagestanden und hilflose, gequälte Laute von sich gegeben hatte.
»Kaltes Wasser!«, hatte sie geschrien. »Mach schnell, um Himmels willen, bevor du irgendwas anderes tust!«
»Dann haben Sie genau richtig gehandelt, Abigail«, sagte die Stimme in sanftem Tonfall.
Stimmen. Männer und Frauen, Sanitäter, Ärzte, Krankenschwestern, Pförtner, alle in dem schmerzhaften, schrecklichen Halbdunkel zu einer Masse verschmolzen, und alle ließen ihr Freundlichkeit, Hilfe und Informationen zukommen, doch das meiste bekam sie vor Angst und Schmerz gar nicht mit.
»Sie haben großes Glück gehabt«, sagte jemand und erklärte ihr noch einmal, dass die Chemikalie ihr mit Leichtigkeit die Netzhaut oder gar den Sehnerv hätte verätzen können.
Glück.
Abigail dachte zum ersten Mal an ihr Gesicht.
»Ist mein Gesicht verbrannt?«, fragte sie.
»Nur Ihre Augenlider«, wurde ihr geantwortet, »und ein wenig Haut um die Augen herum.«
Die Hautverbrennungen würden eine Weile schmerzen, sagte man ihr, doch die Verletzungen würden ohne plastische Chirurgie wieder verheilen.
»Auch da haben Sie Glück gehabt.«
Glück.
Abigail stellte nicht die Frage, die sie am meisten bewegte. Sie brachte es nicht über sich. Stattdessenwartete sie voller Schmerz, körperlich wie seelisch, dass jemand ihr sagte, sie hätte auch in dieser Hinsicht Glück gehabt.
Dass sie nicht blind werden würde.
Doch das sagte
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