Teuflische List
ihrer Ärztin erfuhr, einer freundlichen, resoluten Frau.
»Ist das gut oder schlecht?«, fragte Abigail.
»Besser als Verbrennungen vierten Grades«, antwortete die Ärztin.
»Aber schlechter als zweiten Grades«, sagte Abigail.
»Trotzdem ist es eine gute Nachricht.«
Die Begriffe, die die Augenärztin benutzte, waren Abigail aus anderen Zusammenhängen vertraut; trotzdem hatte sie das Gefühl, eine vollkommen neue Sprache zu lernen: Hornhautabschürfung, Verlust des Epitheliums, Perforation, Ischämie des Limbus.
Der Limbus, lernte Abigail, war die Grenze zwischen Hornhaut und Sclera, der Lederhaut.
»Die Lederhaut ist der weiße Teil?«, fragte sie.
»Die Sclera bedeckt jeden Teil des Auges mit Ausnahme der Hornhaut«, erklärte die Ärztin.
»Und Ischämie hat etwas mit der Blutversorgung zu tun«, wagte Abigail sich weiter vor.
»Genau.«
»Und das Blut kommt nicht durch?«
»Nur bis zur Hälfte des Limbus in jedem Auge«, sagte die Ärztin.
Schlussendlich stellte Abigail die Frage doch.
»Was bedeutet das für meine Sehkraft?«
»Wahrscheinlich wird Ihr Sehvermögen dadurch beträchtlich vermindert«, antwortete die Ärztin.
»Aber ich werde nicht erblinden.« Abigail zitterte am ganzen Leib.
»Nein, blind werden Sie nicht.« Die Ärztin ergriff ihre Hand. »Und es wird nicht ewig anhalten.«
Nicht ewig.
Und wieder war das mehr, als sie verdiente, meldete sich der alte, sich selbst verdammende Teil ihres Verstandes.
»Aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg«, fügte die Ärztin hinzu.
»Muss ich operiert werden?«, fragte Abigail.
»Möglich«, antwortete die Frau. »Aber um das sagen zu können, ist es noch zu früh.«
Sie würden noch mehrere Wochen warten, erklärte die Ärztin, vermutlich sogar Monate, bevor sie eine Entscheidung treffen würden, was eine mögliche Transplantation beträfe …
Nicht blind.
Das war das Einzige, das für Abigail zählte.
»Wie schlimm sehe ich aus?« Darüber hatte sie bis jetzt kaum nachgedacht.
»Ein wenig zerschunden«, antwortete die Ärztin. »Aber da ist nichts, das nicht rasch wieder heilen würde.«
»Es tut trotzdem weh«, sagte Abigail.
»Beschwert haben Sie sich deshalb aber nicht.«
»Ich wollte nicht.«
Die Ärztin drückte ihr erneut die Hand.
»Dazu hätten Sie aber jedes Recht gehabt, Abigail.«
Nach fünf Tagen und einer weiteren Fragerunde mit der Polizei wurde Abigail nach Hause entlassen. Die Ärzte gaben ihr eine Tasche mit Medikamenten mit, eine Liste mit Anweisungen für Silas, der sie abholte, und einen Termin für die erste ambulante Behandlung.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Silas im Auto.
»Gut«, antwortete Abigail. Ihre Augen wurden von einem Plastikschild geschützt. »Es ist schön, wieder draußen zu sein.«
»Bestimmt bist du ziemlich nervös«, sagte Silas.
»Du meinst, weil ich noch nicht weiß, wie ich zurechtkommen werde? Ja. Das macht mir eine Heidenangst.«
»Dazu besteht kein Grund«, sagte er. »Und es bist nicht nur du – wir sind es. Und gemeinsam werden wir es schaffen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.«
»Ja«, sagte sie.
Vor ihrer Entlassung hatte man Abigail eingehend beraten, welche Hilfe sie in Anspruch nehmen und was sie am Haus ändern könnten. So hatte man vorgeschlagen, sie solle Silas bitten, das Schlafzimmer ins Erdgeschoss zu verlegen und mögliche Hindernisse zu beseitigen, damit sie sich einigermaßen unabhängig und sicher würde bewegen können.
»Das ist nicht nötig«, hatte Silas erklärt. »Ich werde die ganze Zeit bei ihr sein.«
Die Ärzte hatten erwidert, das sei zwar ein edler Gedanke, doch in der Ausführung eher unmöglich. Silaswiederum hatte erwidert, mit Edelmut habe das nichts zu tun; schließlich sei er für Abigails Zustand verantwortlich, und überdies könne keinerlei Zweifel daran bestehen, dass er Tag und Nacht jede Minute an ihrer Seite sein würde.
»Sie kann sich vollkommen auf mich verlassen«, hatte er gesagt.
Als Silas an diesem ersten Abend im Haus beobachtete, wie Abigail versuchte, sich in der Küche zurechtzufinden, verflogen seine letzten Zweifel, wie sehr sie ihn brauchte.
Aber das würde natürlich nicht ewig so bleiben.
Eines Tages würden diese lieblichen Augen sich wieder öffnen und vermutlich in der Lage sein, ihren Priester anzuschauen – andere Männer –, doch bis dahin würde sie vielleicht erkannt haben, dass er der Einzige war, auf den sie sich hundert Prozent verlassen konnte.
Er war der Einzige, der sie
Weitere Kostenlose Bücher