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Teuflische Schwester

Teuflische Schwester

Titel: Teuflische Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
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bemächtigt hatte.
So setzte er sich bei seinen täglichen Besuchen neben
sie, hielt ihr die schlaffe Hand und erzählte ihr mit leiser
Stimme, was er getan hatte – und vor allem von der
Vergangenheit, von den schönen Stunden, die sie
gemeinsam erlebt hatten.
Heute blieb er fast eine Stunde bei ihr. Schließlich sah er
auf die Uhr. »Ich muß jetzt gehen«, entschuldigte er sich.
»Heute nacht steigt ein großes Fest. Deine Mutter hat ihre
ganze Zeit mit der Vorbereitung im Clubhaus verbracht,
aber mir hat sie nicht einmal das Motto des Balls verraten
wollen. Doch ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen,
wird es dieses Jahr etwas ganz Besonderes.«
Er beugte sich vor und nahm Melissas beide Hände in
die seinen. »Ich wünschte mir, du könntest dabeisein«,
sagte er leise. »Weißt du noch, was ich dir versprochen
habe? In dem Sommer, in dem du dreizehn wirst, wollte
ich im August beim Vollmondball den ersten Tanz mit dir
tanzen.«
Den Bruchteil einer Sekunde schien ein Funke in
Melissas Auge aufzublitzen. Sein Herz fing rasend zu
pochen an. »Missy?« rief er. »Missy, hast du mich
gehört?«
Aber so schnell er gekommen war, so schnell erlosch der
Funke auch wieder. Charles erhob sich widerwillig. Er
küßte sie sanft auf die Stirn und ging aus dem Zimmer.
Das Bild des sonderbaren kurzen Aufflackerns in ihren
Augen ging ihm aber nicht aus dem Sinn. Er spähte noch
einmal durch das Sichtfenster in ihr Zimmer.
Melissa saß da wie die ganze Zeit schon und starrte ins
Leere. Er wollte sich gerade abwenden, da hob sich ihre
Hand und betastete vorsichtig die Perlenkette um ihren
Hals.
Tränen quollen ihm aus den Augen. Ihm war wieder
eingefallen, was sie ihm zu Weihnachten beim Öffnen des
Päckchens zugeflüstert hatte: »Ich werde sie im August
zum Vollmondball tragen.«
Aber sie würde nicht zum Ball gehen. Heute nacht nicht
und vielleicht niemals.
Er wischte sich die Tränen aus den Augen und eilte
davon.

29
    Teri schloß die Arme enger um Bretts Hals und schmiegte
sich an seine Brust. Mit geschlossenen Augen wiegte sie
sich, ganz durchdrungen von der sanften Melodie des
letzten Tanzes. All die Paare um sie herum tanzten
genauso langsam, als könnten sie damit diesen herrlichen
Abend noch ein bißchen verlängern.
    Der Ball war von Anfang an ein voller Erfolg gewesen.
Kaum waren die Türen um Punkt halb neun
aufgesprungen, waren auch schon die meisten
Clubmitglieder in die Vorhalle geströmt. Und als Phyllis
und Lenore schließlich die massive Mahagonitür feierlich
öffneten, stockte allen der Atem.
    Ein kollektives Ahhh ging beim Anblick der
Innenausstattung durch die Menge. Der Speisesaal, wie er
vor hundert Jahren ausgesehen hatte, war
wiederauferstanden. An den Wänden hatte man
Holzvertäfelungen angebracht. Bedeckt waren sie mit
roter Velourstapete. Die Kronleuchter, die auch schon vor
hundert Jahren hier gehangen hatten, waren für den Anlaß
neu vergoldet worden. Nur die Birnen hatte man durch
neue ersetzt, die das Aufflackern von Gasflammen
täuschend ähnlich nachahmten.
    An den Wänden hatte man echte Gaslampen angebracht.
Sie verliehen dem Raum einen Glanz, als wäre die Zeit nie
verstrichen.
    Topfpalmen zierten sämtliche Ecken, und auf der
Orchesterbühne waren keine Mikrofone zu sehen. Heute
sollte das Orchester ohne elektronische Verstärkung
spielen. Über dem Orchester verkündete das von Phyllis
so sorgfältig beschriftete Banner das Motto:
Der Kreis schließt sich –
Zurück zu den Anfängen
     
Und in der Tat ließ der Abend den Eindruck entstehen, die
letzten hundert Jahre hätten nie stattgefunden.
    Phyllis hatte an alles gedacht. Jeder Frau hatte man eine
Tanzkarte mit einem rosa Band um das Handgelenk
gebunden. Die Musik und alles, was dazu gehörte, kam
aus einer anderen Zeit. Das Orchester spielte von
vergilbten Notenblättern, die man aus fast jedem Speicher
von Secret Cove hervorgekramt hatte.
    Bilder aus der guten alten Zeit waren ebenfalls zu sehen
– ausgeblichene Daguerrotypien. Fast jeder der Geladenen
war ein Nachkomme eines der Gäste des ersten
Vollmondballs hundert Jahre zuvor.
    Nachdem Brett die Dekoration gebührend bewundert
hatte, fegte er mit Teri über die Tanzfläche. »Das ist fast
unheimlich«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Glaubst du nicht
auch, daß D’Arcy im nächsten Augenblick
hereinkommt?«
    Teri lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sie erholte sich
schnell davon, doch in der ersten Stunde kam es ihr

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