Teuflische Schwester
mit Teri hatte sie auch die Tochter, die ihr zustand.
Jetzt endlich nahm ihr Leben den Verlauf, den sie an
jenem Tag geplant hatte, als sie nach Maplecrest
gekommen war und Teri in die Arme genommen hatte.
Von solch einem Kind hatte sie zuvor immer geträumt.
Nach all den Jahren war sie endlich mit ihrem
Wunschkind zusammen. Und konnte das langersehnte
Leben führen.
Sie drückte Teri liebevoll die Hand. Melissa war aus
ihren Gedanken gebannt.
Ohne sie waren schließlich alle besser dran.
Charles fuhr vor der Harborview Clinic vor und nickte
dem Pförtner zu. Sogleich drückte dieser einen Knopf, und
das schwere Eisentor glitt zur Seite. Links und rechts vom
Tor erstreckte sich ein geschickt hinter Büschen
verborgener Stacheldrahtzaun. Er verlief um einen gut
zwei Quadratkilometer großen Park, in dessen Mitte die
Klinik stand. Charles hatte nie das Gefühl, er befinde sich
in einem Gefängnis, auch dann nicht, als er vor dem
Gebäude parkte. Wer es nicht wußte, hielt es für ein
normales altes Privatkrankenhaus. Das war es auch einmal
gewesen. Zwar hatte man ihm die Sicherheitsanlagen
gezeigt, die bei der Umwandlung installiert worden waren,
doch sie waren so raffiniert angebracht, daß er sie mit den
Augen nicht zu erkennen vermochte. Charles stieg aus und
eilte die Treppe hinauf. Die hinter einem antiken
Schreibtisch sitzende Empfangsschwester lächelte ihm zu.
»Auf Ihr Kommen können wir uns immer verlassen, nicht
wahr, Mr. Holloway?«
Charles nickte ihr dankbar zu, aber sein Blick war schon
zum Aufenthaltsraum gewandert. Die Empfangsschwester
deutete seinen Blick richtig. Ihr Lächeln erstarb.
»Noch nicht«, sagte sie bedauernd. »Sie wurde heute
morgen wieder heruntergebracht, aber sie hat dasselbe
getan, wie sonst auch immer. Anscheinend fühlt sie sich in
ihrem Zimmer am wohlsten.«
Charles’ ohnehin schon schwache Hoffnung erlosch,
doch er zwang sich zu einem Lächeln. »Na ja, morgen
vielleicht.« Er stieg die Treppen zum ersten Stock empor.
Dort nahm ihn die diensthabende Schwester in Empfang.
Auch sie saß hinter einem antiken Schreibtisch – fast ein
Pendant zu dem im Erdgeschoß.
»Sie können gleich reingehen, Mr. Holloway.«
Charles schritt den Flur zum Westflügel hinunter. Vor
der dritten Tür links blieb er stehen und spähte durch das
kleine Sichtfenster. Wie gestern und die ganzen Tage
davor saß Melissa auf einem Stuhl vor dem Fenster. Ihre
Hände lagen auf dem Schoß, ihr Blick war starr geradeaus
gerichtet.
Und ging ins Leere.
Nein, sagte sich Charles und trat ein. Sie sieht etwas. Sie
schaut auf etwas Bestimmtes, das sie nur mit dem
geistigen Auge sehen kann. Nur kann sie sich noch keinen
Reim darauf machen. Aber irgendwann ist es soweit, und
dann ist sie geheilt.
»Melissa?« sagte er und stellte einen Stuhl neben den
ihren. »Missy, ich bin’s. Hörst du mich?«
Keine Reaktion. Es war, als hätte sie seine Gegenwart
gar nicht registriert.
»Aber das heißt nicht notwendigerweise, daß sie Sie
nicht hört«, hatte Doktor Andrews ihm letzte Woche
versichert. »Melissas Persönlichkeit ist nach wie vor da,
nur sehen wir sie im Augenblick noch nicht. Sie müssen
sich das ungefähr wie ein Versteckspiel vorstellen. Sie
sehen und hören Melissa nicht, aber sie ist irgendwo ganz
in der Nähe. Möglicherweise hört sie Ihnen sogar zu. Sie
dürfen nicht vergessen, daß sie ein verängstigtes kleines
Mädchen ist. Vermutlich hat sie ein schlimmes Ereignis so
sehr verschreckt, daß sie die Konsequenzen fürchtet und
sich deshalb nicht zu erkennen gibt.«
»Aber D’Arcy sagt doch, daß sie schläft?« hatte Charles
gemeint.
»Sehr richtig. Aber wahrscheinlich kennt D’Arcy die
ganze Wahrheit genausowenig wie Melissa. Melissa
wußte von D’Arcys Existenz, hatte aber keinerlei Kenntnis
von D’Arcys Erlebnissen. Wir müssen annehmen, daß es
sich mit D’Arcy genauso verhält.«
»Hat D’Arcy Ihnen erzählt, was geschehen ist?«
Andrews hatte den Kopf geschüttelt. »Wie gesagt, sie
weiß es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Ich kann nur
eins mit Gewißheit sagen: Sie beschützt Melissa oder
glaubt zumindest, dies zu tun.«
Es hatte Wochen gedauert, bis Charles sich mit der
Doppelidentität seiner Tochter abgefunden hatte. Er war
bereit, mit Doktor Andrews über D’Arcy zu diskutieren,
brachte es jedoch immer noch nicht übers Herz, dieses
sonderbare, stille Wesen persönlich anzusprechen, das sich
offensichtlich Melissas
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