Teuflische Schwester
vorstellen, daß der Feuerwehrmann die Wahrheit gesagt
hatte. Schließlich drang Lucy Barrows Stimme zu ihr
durch.
»Wir müssen deine Verwandten anrufen.«
Teri wandte sich von den schwelenden Trümmern ab
und sah Lucy mit ausdruckslosen Augen an. Einen
Augenblick lang war sich Lucy nicht sicher, ob Teri sie
gehört hatte, doch dann gab das Mädchen eine Antwort.
»Mein Vater«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Könnten
Sie bitte meinen Vater anrufen?«
O Gott, dachte Lucy. Das muß der Schock sein. Sie hat
noch gar nicht begriffen, was da geschehen ist. Sie legte
den Arm um Teri und drückte sie fest an sich. »Mein
Liebling«, flüsterte sie. »Er ist im Haus geblieben. Das
wollte der Feuerwehrmann dir erklären. Es tut mir leid.«
Sie kam sich hilflos vor. Was konnten auch Worte in
einer solchen Situation ausrichten? »Es tut mir so
schrecklich leid.«
Teri ließ sich regungslos in den Arm nehmen, dann
entwand sie sich und schüttelte den Kopf.
»Nicht der da«, rief sie. »Wir müssen meinen richtigen
Vater anrufen.« Sie drehte sich wieder zum Haus um, wo
sich drei Männer bereits um die Bergung von Tom
MacIvers Leiche kümmerten. »Er war mein Stiefvater«,
fuhr sie fort. »Er hat mich adoptiert, als ich vier war. Jetzt
müssen wir meinen richtigen Vater anrufen.«
2
Gleißendes Sonnenlicht flutete durch das Zimmer. Melissa
Holloway schlug die Augen auf, und sofort befielen sie
Gewissensbisse – sie hatte wieder einmal verschlafen.
Hastig warf sie die dünne Bettdecke von sich, da fiel es ihr
wieder ein. Heute durfte sie ja ruhig verschlafen. Heute
würden ihr diese und sämtliche anderen kleinen Sünden,
die ihr tagtäglich unterliefen, verziehen.
Denn heute hatte sie Geburtstag.
Und es war auch nicht irgendein Geburtstag. Heute war
ihr dreizehnter Geburtstag, der erste Tag eines völlig
neuen Lebens. Sie war jetzt ein Teenager.
Sie ließ sich aufs Kissen zurückfallen, streckte sich
behaglich und versuchte sich den Unterschied zwischen
der Melissa von heute und der anderen Melissa
auszumalen, die all die übrigen Tage ihres Lebens erduldet
hatte.
Sie spürte nichts. Keinerlei Unterschied.
Das Wohlbehagen ließ ein bißchen nach, doch sie
entschied, daß es nichts zu bedeuten habe, wenn sie sich
nicht anders fühlte. Das würde sich schon noch einstellen.
Die Hauptsache war doch, daß sie jetzt eine andere war.
Sie setzte sich auf und ließ die Blicke durch das Zimmer
schweifen, in dem sie seit ihrer Geburt jeden Sommer
verbracht hatte. Hier mußte sich jetzt alles ändern,
beschloß sie. Es war ja überhaupt kein Teenagerzimmer.
Es war ein Kleinmädchenzimmer. Die Regale ringsum
quollen über von Puppen und Stofftieren. In den Ecken
stapelte sich ihr Lieblingsspielzeug aus den Babyjahren.
Neben der Heizung stand ihr riesiges viktorianisches
Puppenhaus. Das mußte auf alle Fälle auch verschwinden.
Puppen waren schließlich etwas für kleine Kinder.
Schon wieder zog sie die Stirn in Falten. Vielleicht sollte
sie wenigstens beim Puppenhaus einen Kompromiß
machen. Es war ja nicht irgendein Puppenhaus. Es war
groß – so groß, daß sie als kleines Kind sogar hatte
hineinkriechen können – und es war mit Miniaturmöbeln
aus der Zeit der Jahrhundertwende ausgestattet.
»Was meinst du, D’Arcy?« fragte sie laut. »Findest du
nicht auch, daß wir es wenigstens noch eine Weile
behalten sollten?« Plötzlich hielt sie sich erschreckt den
Mund zu. Ihr fiel ihr Versprechen wieder ein. Hatte sie
nicht ihrem Vater letzte Woche geschworen, daß sie
D’Arcy heute aufgeben würde?
Schließlich brauchten nur Kinder Freunde, die allein in
ihrer Fantasie existierten. Wenn man heranwuchs, tauschte
man die eingebildeten Freunde gegen echte. Andererseits
war D’Arcy für Melissa eigentlich keine eingebildete
Freundin – sie war fast so wirklich wie sie selbst.
Sie lebte oben im Speicher von Secret Cove. Dort blieb
sie auch den Rest des Jahres, wenn die Familie in ihre
Wohnung in Manhattan zurückkehrte. Natürlich hatte
D’Arcy außer Melissa kaum Ansprache – höchstens noch
Cora Peterson, die Haushälterin –, aber das hatte ihr noch
nie etwas ausgemacht.
Melissa hatte gedacht, daß D’Arcy sich im Winter
einsam fühlen mußte, weil dann niemand im Haus wohnte,
doch vor Jahren, als Melissa wieder einmal nicht schlafen
konnte, hatte D’Arcy ihr in einem ihrer langen nächtlichen
Gespräche anvertraut, daß sie sich allein durchaus wohl
fühlte.
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