Teuflische Schwester
Dir ist es wahrhaftig
gelungen, die wertvolle Zeit deines Vaters zu vergeuden.
Es war rücksichtslos von dir, ihn den ganzen weiten Weg
herkommen zu lassen und dann nichts anderes zu tun als
sonst, nämlich gar nichts.«
Melissa waren die Tränen in die Augen getreten, doch
dann hatte Daddy eine Lanze für sie gebrochen: »Aber
deswegen bin ich ja gekommen, um nichts Besonderes zu
tun. Und wenn es ihr soviel Spaß gemacht hat wie mir,
dann hatten wir einen wunderschönen Tag zusammen.«
Aus den Augenwinkeln hatte Melissa gesehen, wie ihre
Mutter die Lippen zusammenbiß, doch sie hatte nichts
gesagt. Am nächsten Tag freilich, als Daddy in die Stadt
gefahren war …
Sie verscheuchte die unangenehme Erinnerung. Dieses
Jahr sollte es ganz anders werden.
Ihr Vater war in der Küche bei Cora. Er lächelte sie an,
als sie eintrat. »Na, hast du Appetit auf meine
Spezialwaffeln: Blaubeeren mit Schokolade?«
Cora runzelte mißbilligend die Stirn. »Ich weiß nicht,
woher Sie solche Rezepte haben. Ich jedenfalls habe Ihnen
keine Süßigkeiten gegeben, als Sie klein waren …«
»Willst du auch eine«, fiel Charles der alten
Haushälterin mit einem vielsagenden Blick ins Wort. Sie
schürzte die Lippen und betrachtete kritisch all die
Naschereien und schmutzigen Teller, die ihr Brotherr auf
dem Tisch arrangiert hatte. Schließlich fügte sie sich
seufzend in die Niederlage.
»Na ja, eine wird wohl nichts schaden.«
»Geh mal zu Todd«, befahl Charles Melissa augenzwinkernd. »Und sag ihm, daß er an deinem Geburtstag
nichts anderes darf als herumblödeln.«
Melissa war schon bei der Tür, als das Telefon schrillte.
Sie blieb jäh stehen und wartete. Cora nahm ab. Eine
Sekunde später wurde sie aschfahl und reichte Charles den
Hörer mit zitternden Fingern.
»Es ist wegen Polly …« Ihre Stimme bebte. Tränen
schossen ihr plötzlich in die Augen. »Sie ist … Sie und ihr
Mann … Es hat ein Feuer gegeben …« Sie sank auf einem
Hocker nieder, während Charles ihr den Hörer aus der
Hand riß.
Melissa versuchte aus den Gesprächsfetzen schlau zu
werden. Als er schließlich auflegte, war er genauso bleich
wie Cora. »Es ist leider etwas Schreckliches passiert, mein
Liebling«, erklärte er sanft, aber mit belegter Stimme. »Ich
muß sofort nach Los Angeles fliegen.«
Melissa starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
»Polly und Tom MacIver sind tot«, fuhr er fort. »Ihr
Haus ist heute morgen abgebrannt.«
»Und Teri?« flüsterte Melissa, ohne den Blick von ihm
zu wenden. »Was ist mit Teri?«
Charles schloß für einen Augenblick die Augen. Er legte
die Hand auf die Stirn, als hätten ihn plötzlich heftige
Kopfschmerzen gepackt. Schließlich brachte er ein Nicken
zuwege. »Ihr geht es gut. Sie hat sich retten können.
Soweit ich verstanden habe, wußte Tom das nicht. Er
versuchte sie zu retten. Und Polly ist beim Sprung aus
dem Fenster ums Leben gekommen.«
»O Gott«, stöhnte Cora.
Melissa hörte die Worte wohl, verstand auch, was sie
bedeuteten, doch sie schüttelte den Kopf. »Aber … heute
ist doch mein Geburtstag …«
Charles stellte sich neben seine Tochter und drückte sie
fest an sich. »Ich weiß, mein Liebling«, flüsterte er ihr ins
Ohr. »Und ich weiß auch, was ich dir versprochen habe.
Aber es geht nicht anders. Ich bin schließlich auch Teris
Vater und muß zu ihr. Sie hat ja niemanden sonst auf der
Welt. Verstehst du das denn nicht?«
Melissa stand stocksteif da, dann nickte sie. Als Charles
sie losließ, gelang ihr ein unsicheres Lächeln. »Wenn du
zurückkommst, bringst du dann Teri mit? Ich meine, für
immer?«
Charles zögerte. Er überlegte, was in Melissa vorgehen
mochte.
»Das werde ich wohl müssen, meinst du nicht auch?«
sagte er. »Sie ist ja meine Tochter und ist jetzt ganz allein
auf der Welt. Findest du nicht auch, daß sie hierher
gehört?«
Melissa zögerte mit der Antwort. Gemischte Gefühle
spiegelten sich in ihrem Gesicht. Natürlich taten ihr Teris
Mutter und Stiefvater leid, aber sie hatte sie nie gesehen.
Und auch über Teri wußte sie so gut wie nichts. Eigentlich
waren es nur zwei Dinge.
Teri war in diesem Haus auf die Welt gekommen.
Und Teri war ihre Halbschwester.
Eine Halbschwester war fast das gleiche wie eine
richtige Schwester. Und soweit Melissa sich
zurückerinnern konnte, hatte sie sich nichts sehnlicher
gewünscht als eine Schwester.
Eine ältere Schwester, eine Freundin, die ihr all die
Fragen beantwortete, die sie
Weitere Kostenlose Bücher