The American Monstershow in Germany
Leute, der eine eigene Bude hatte, und sie trafen sich hier in regelmäßigen Abständen. Manchmal gingen sie auch gemeinsam auf Tour durch die Kneipen der Umgebung: Außer Frank saßen seine Freunde Martin und Gerald, Geralds Freundin Anke und Heike, die mit Frank ging, um den runden Eichentisch herum. Dieses solide Holzmonster hätte vielleicht antiquarischen Wert gehabt, wenn es nicht so viel Flecke und Ränder geziert hätten.
Sie hatten alle sechs schon einige Biere getötet. Auf dem Tisch stand ein Haufen leerer Flaschen, die meisten davon hatten Radeberger enthalten. Das Bier hatten die Jungs besorgt, die Idee mit den Kerzen hatten die Mädchen gehabt. „So wird die Stimmung unheimlicher“, hatten sie gesagt. Das Besondere an diesem Abend waren aber nicht die Kerzen, jedenfalls nicht so besonders, das sie allein erwähnenswert gewesen wären.
Das Besondere war der alte Mann. Sie hatten ihn auf einer ihrer Touren durch die Kneipen kennengelernt. Er war einer von jenen Menschen, die einem sofort auffallen, wenn man sie zum ersten Mal sieht, und deren Gesichtszüge man dann nie mehr vergisst. Er sah aus wie eine Mumie. Tiefe Furchen zogen sich durch ein Gesicht, das wie mit Elefantenleder bezogen aussah. Die Augen lagen so weit unter dem Stirnbein, dass dessen dunkle Schatten sie fast völlig verbargen. Die Brauen waren graue Fuchsschwänze. Ein eisgrauer Vollbart bedeckte die untere Gesichtshälfte. Der beinahe zahnlose Mund war vermutlich dankbar dafür.
In krassem Gegensatz zu der üppigen Behaarung im Gesicht stand das dünne graue Haupthaar, das in einzelnen Strähnen vom Kopf herunter hing.
Sie hatten den alten Mann in dieser Kneipe der Dresdner Neustadt allein an einem Tisch sitzen sehen und sich spontan von ihm angezogen gefühlt. Sie wussten nicht, wie er hieß. Sie hatten ihn von Anfang an den alten Mann genannt, sie nannten ihn noch immer so.
Gerald hatte den alten Mann eingeladen. Der Grund war einfach. Es gab zwei Dinge, die Gerald bewunderte: Malerei und gute Geschichten. Und es gab zwei Dinge, die der alte Mann beherrschte: malen und Geschichten erzählen.
„ Wie alt schätzt ihr mich?“ hatte der alte Mann gefragt, nachdem er die erste Geschichte zu Ende erzählt hatte. „Na, was glaubst du?“ wandte er sich direkt an Anke.
„ 75“, sagte Anke. Sie wollte dem alten Mann vielleicht schmeicheln. Es war die gleiche Situation, wie wenn ein Mann eine Frau, die mit ihrer Tochter auf einer Party ist, fragt: „Wo steckt denn Ihre ältere Schwester?“
Der alte Mann lächelte ein feines, ironisches Lächeln, das man unter seinem dichten Bart kaum sah.
„ 105!“ platzte Martin heraus. Er sprach damit aus, was alle fünf jungen Leute glaubten.
Schallendes Gelächter war die Antwort. Dann streckte sich der alte Mann etwas. Er schob den Brustkorb heraus, hob das Kinn und sah allen fünf der Reihe nach fest in die Augen.
„ 56“, sagte er dann mit fester Stimme, und das sekundenlange Schweigen des Unglaubens senkte sich über den Tisch.
Keiner der jungen Leute sprach aus, was er dachte. ‚Er ist verrückt. Er weiß nicht mehr, in welchem Jahr er lebt.‘
„ Ihr glaubt mir nicht“, sagte der alte Mann ruhig. „Aber bedenkt, es gibt noch mehr Dinge außer der Zeit, die uns den Stempel des Alters aufdrücken.“ Dann, als noch immer ehrfurchtsvolles Schweigen herrschte, fuhr er fort: „Ich will euch eine Geschichte erzählen. Ich will sie beginnen, wie man jedes gute Märchen beginnt: Es war einmal ...“
Der alte Mann nahm einen großen Schluck Bier aus der Flasche vor ihm. Dann sagte er: „Es war einmal ein Maler.“
„ Das wart Ihr, nicht wahr?“ fiel im Gerald plötzlich ins Wort. Er hatte endlich seine Sprache wiedergefunden.
„ Nein“, antwortete der alte Mann. „Oder hast du je davon gehört, dass der Protagonist eines Märchens dieses selbst erzählt?“
Keiner der jungen Leute antwortete. Alle schauten sie gebannt auf den alten Mann. Er hatte sie verzaubert, sie waren in seinem Bann und wollten nur noch eines: seine Geschichte hören. Der alte Mann wusste, dass man ihn nicht noch einmal unterbrechen würde. Also begann er zu erzählen.
Es war einmal ein Maler. Er war jung und tüchtig, aber das genügt gewöhnlich nicht, wenn man sich der Kunst verschrieben hat. Talent lässt sich durch Fleiß kaum ersetzen. So kam es, dass der Maler nicht berühmt und erst recht nicht wohlhabend war. Er wohnte in einer kleinen Mansardenwohnung in einer unbedeutenden
Weitere Kostenlose Bücher