The American Monstershow in Germany
besaß für einen Vierzehnjährigen einen bemerkenswert scharfen analytischen Verstand und ein gerütteltes Maß Logik. Das Lösen komplizierter algebraischer Gleichungen und, sonst ein Greul aller Schüler, Kurvendiskussionen bereiteten ihm Vergnügen. Sie waren eher eine Art geistiger Gymnastik als schwierige Probleme für ihn. Aber Jürgen war kein Ideal, wie es einem Lehrer vorschwebt, denn was er an Talent besaß, glich eine ausreichende Menge Faulheit wieder aus. Es war Jürgens Glück, ohne dass er dies zu schätzen wusste, dass ihm vieles von dem, was seine Klassenkameraden sich hart erarbeiten mussten, in den Schoß fiel. So blieb ihm viel Zeit für seine Träume, die anscheinend einen Ausgleich bildeten zu seiner logischen Gehirnhälfte.
Er las viel, vor allem Abenteuer und Kriminalromane, und ergötzte sich an kniffligen Rätseln und unausweichlichen Katastrophen.
Diese Leidenschaft teilte er mit seinem Freund Andreas, der ansonsten wenig mit Jürgen gemein hatte. Sie waren ein Paar wie Feuer und Wasser, gegensätzlich und irgendwie doch nicht voneinander zu trennen.
Jürgen war ein Windspiel, die fleischgewordene Unausgeglichenheit. Andreas dagegen war ruhig, ausgeglichen. Es war allerdings keine behäbige Ruhe, sondern eher die abgeklärte Ausgeglichenheit eines Erwachsenen, die von ihm ausging. Der Volksmund würde sagen, ihm ging alles einige Meter am Arsch vorbei.
Während Jürgen das Wissen ins Hirn flatterte wie die gebratenen Tauben den Schlaraffenlandbewohnern in den Mund, musste Andreas einige Anstrengung aufbringen, um vorwärts zu kommen. Dies soll nicht heißen, dass er dumm gewesen wäre, aber er musste seinem Hirn die Nahrung auf dem üblichen Wege zuführen. Was er dann einmal gelernt hatte, vergaß er allerdings nie mehr. Jürgen war stets einer der ersten, wenn es darum ging, eine Verabredung einzuhalten. Man lud ihn zu Geburtstagsfesten immer eine halbe Stunde später ein als alle anderen Gäste, damit er dann mit diesen gemeinsam eintraf. Andreas war berüchtigt für seine Verspätungen. Besonders Jürgen brachte er damit natürlich zur Weißglut.
Wieder einmal verspätete sich Andreas. Jürgen trat nervös von einem Bein auf das andere. Er lief einige Male vor den Auslagen eines Juweliers auf und ab, ohne zu bemerken, welche Schönheiten sich hinter der Scheibe des Schaufensters offenbarten.
„ Wenn er mit der nächsten Straßenbahn nicht kommt, gehe ich allein“, überlegte Jürgen verbissen. „Soll Andy doch sehen, wie er ohne Karten rein kommt.“
Jürgen wusste genau, dass er so etwas niemals tun würde. Aber die Warterei machte ihn fertig. So war es schon immer gewesen.
Gerade diesmal wollte er sich auf keinen Fall verspäten. Er brauchte einen guten Platz, von dem aus er genau verfolgen konnte, was ihm da vorgegaukelt wurde. Um Tricks musste es sich handeln bei dem, was ihm und Andreas heute geboten werden sollte. Davon war Jürgen fest überzeugt.
„ The American Monstershow in Germany“ prangte in blutroten, leicht verlaufenden Lettern auf einem Plakat direkt am Eingang zur Show. Es war das gleiche Plakat, das Jürgen zwei Tage zuvor auf dem Weg zur Schule zum ersten Mal gesehen hatte. Es war ihm sofort klar gewesen, dass er diese Show nicht versäumen wollte.
„ Erleben Sie das Grauen so hautnah wie nie zuvor“, versprach das Plakat. „Lassen Sie sich gefangen nehmen von der atemberaubenden Show mit den original amerikanischen Monstern. Werfen Sie einen Blick in die Abgründe der Hölle!“
Zombies, Werwölfe und Vampire versprach das Plakat.
Als Jürgen es sich jetzt noch einmal gründlich durchlas, musste er laut auflachen. ‚Diese Amerikaner waren wirklich unmöglich. Sie verkauften einem dieses Horrortheater am Ende noch als Tatsachen.‘
Jürgen wandte sich von dem Plakat ab und sah, dass nun endlich auch Andreas angetrottet kam. Ja, er kam angetrottet! Er hielt es nicht für nötig zu laufen, wenn die Vorstellung in einer Minute anfing. Es war doch noch so viel Zeit.
Jürgen rannte ihm entgegen und begann mit einer Schimpfkanonade, noch bevor Andreas überhaupt in Hörweite war. Als Jürgen dann Andreas erreicht hatte, war seine Wut fast schon verraucht. Er hatte nur noch ein Ziel, pünktlich vor Beginn der Veranstaltung seinen Platz einzunehmen.
„ Warum kommst du erst jetzt? Ich warte seit einer Viertelstunde.“ Es waren nur noch hilflose Reste der Wut, so wie ein erlöschendes Feuer, das kurzzeitig noch einmal aufflackert.
„ Ich hatte die
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