The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
ich war, dann knickte sie die zarten Beine ein und legte sich neben mich. Sie bettete den Kopf in meinen Schoß und schnaubte zufrieden. Ich zog die Handschuhe aus und streichelte ihre Ohren. Das weiche Fell roch nach Moschus. Ihr kräftiger Herzschlag war deutlich zu spüren. So nah war ich einem wilden Tier noch nie gekommen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, dieses kleine Reh zu sein , auf vier Beinen zu laufen und ungezähmt in den Wäldern zu leben.
Aber ich war nicht ungezähmt. Mehr als zehn Jahre lang hatte ich in einer Scion-Zitadelle gelebt. Das hatte mir jede Ungezähmtheit ausgetrieben. Deswegen hatte ich mich wohl auch Jax angeschlossen. Um mich an das zu klammern, was von meinem alten Ich noch übrig war.
Nach kurzem Zögern beschloss ich, den Sprung ins kalte Wasser zu wagen. Ich schloss die Augen und ließ meinen Geist dahintreiben. Nualas Traumlandschaft war leicht zugänglich, dabei aber dünn und zerbrechlich wie eine Seifenblase. Menschen errichteten im Laufe ihres Lebens immer mehr schützende Barrieren, aber Tiere hatten keine solche emotionale Rüstung. Theoretisch konnte ich sie unter meine Kontrolle bringen. Ganz sachte stupste ich gegen ihre Traumlandschaft.
Nuala schnaubte alarmiert. Um sie zu beruhigen, strich ich über ihre Ohren. »Tut mir leid«, sagte ich. »Wird nicht wieder vorkommen.« Schließlich legte sie den Kopf zurück in meinen Schoß, aber nun zitterte sie. Natürlich wusste sie nicht, dass ich diejenige war, die ihr wehgetan hatte. Ich schob die Finger unter ihr Kinn und streichelte sanft ihr Fell.
Als der Wächter zurückkam, war ich fast schon eingeschlafen. Er weckte mich, indem er mich in die Wange piekte. Nuala schaute hoch, doch er beruhigte sie mit einem geflüsterten Wort, und bald nickte sie wieder ein.
»Steh auf«, sagte er. »Ich habe einen neuen Körper für dich gefunden.«
Als er sich auf dem Felsen niederließ, traf es mich völlig unerwartet, wie perfekt er im Mondlicht aussah: Die klar definierten Gesichtszüge wurden deutlich betont, und seine Haut schien regelrecht zu strahlen. »Was ist es denn?«, wollte ich wissen.
»Sieh selbst.«
Seine Hände formten eine Kugel, wobei die Fingerspitzen sich nur ganz knapp berührten. In diesem Käfig entdeckte ich ein zartes Insekt, einen Schmetterling oder vielleicht einen Nachtfalter. In der Dunkelheit war das schwer zu sagen.
»Als ich ihn gefunden habe, ruhte er gerade«, erklärte der Wächter. »Und auch jetzt ist er noch ziemlich lethargisch. Ich dachte, das macht es vielleicht einfacher.«
Also ein Schmetterling. Er zuckte zwischen seinen Fingern.
»Kältepunkte verängstigen Tiere.« Seine leise Stimme war tief und weich. »Sie spüren es, wenn eine Öffnung zur Unterwelt geschaffen wird.«
»Warum hast du sie überhaupt geschaffen?«
»Das wirst du noch sehen.« Er hob den Blick, um mich anzusehen. »Bist du bereit, eine Besessenheit zu wagen?«
»Ich werde es versuchen.«
Das Glühen in seinen Augen verstärkte sich.
»Wahrscheinlich weißt du es schon«, erinnerte ich ihn, »aber mein Körper wird umfallen, wenn ich ihn verlasse. Es wäre wirklich nett, wenn du ihn auffangen könntest.«
Nur mühsam kamen mir die Worte über die Lippen. Es war mir zuwider, ihn um einen Gefallen bitten zu müssen, selbst wenn es sich um so eine Kleinigkeit handelte.
»Selbstverständlich«, versicherte der Wächter.
Ich brach den Blickkontakt zuerst ab.
Nachdem ich noch einmal tief durchgeatmet hatte, löste ich meinen Geist vom Körper. Augenblicklich verschwamm alles vor meinen Augen, und ich sah meine Traumlandschaft. Ich spürte schon den Æther. Die Empfindung verstärkte sich, als ich mich der Dunkelheit am Rand des Mohnblumenfeldes näherte. Der Æther erwartete mich.
Ich sprang.
Aus dem Augenwinkel sah ich mein silbernes Band, wie es sich von meiner Traumlandschaft aus entfaltete und mir den Rückweg anzeigte. Die Traumlandschaft des Wächters war ganz nah. Im Vergleich dazu war der Schmetterling nur ein winziger Fleck, wie ein Sandkorn neben einer großen Murmel. Vorsichtig glitt ich in sein Bewusstsein hinein. Der Wirt zeigte keine Reaktion, keine plötzliche Panik.
Ich fand mich in einer Welt der Träume wieder, einer Welt der Farben, überschwemmt von ockergelbem Licht. Der Schmetterling verbrachte seine Tage damit, an Blüten zu naschen, und ihre opulenten Farben machten all seine Erinnerungen aus. Die berauschenden Düfte von Lavendel, warmem Gras und Rosen
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