The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
verlangt.« Er beobachtete die Flammen. »Nicht mehr.«
Dann öffnete er seine Tasche und entrollte einen einfachen schwarzen Schlafsack. »Hier. Ich habe noch etwas zu erledigen. Für eine Weile wirst du hier sicher sein.«
»Kehrst du in die Stadt zurück?«
»Ja.«
Mir blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen, auch wenn ich kein gutes Gefühl dabei hatte, ganz allein hier draußen zu schlafen – nicht, wenn so viele Geister unterwegs waren. Es waren noch mehr geworden, und auch die Kälte verstärkte sich weiter. Ich zog die nassen Stiefel und Socken aus, legte sie zum Trocknen neben das Feuer und kroch in den Schlafsack. Selbst in Jacke und Weste wurde mir nicht warm, aber es war besser als nichts.
Der Wächter klopfte mit den Fingern auf seinem Knie herum und starrte in die Dunkelheit. Seine Augen glühten wie Kohlen, erfassten jede Gefahr. Ich wälzte mich auf den Rücken und blickte zum Mond hinauf. Wie dunkel die Welt doch war. Wie dunkel und kalt.
Kapitel Siebzehn
D AS V ERMÄCHTNIS
»Beeilung, Pip, komm schon.«
Mein Cousin Finn zog noch stärker an meinem Arm. Ich war sechs Jahre alt, und wir befanden uns im überfüllten Herzen von Dublin, umgeben von schreienden Menschen. »Ich kann nicht so schnell, Finn«, protestierte ich, aber er achtete gar nicht darauf. Es war das erste Mal, dass mein Cousin Finn mir nicht zuhörte.
Wir sollten an diesem Tag ins Kino gehen, einem kalten Vormittag im Februar 2046. Die Wintersonne überzog das Wasser der Liffey mit einem goldenen Schimmer. Ich verbrachte die Ferien bei meiner Tante Sandra. Sie hatte Finn aufgetragen, sich um mich zu kümmern, während sie bei der Arbeit war, da auch er vorlesungsfrei hatte. Ich hatte mir einen Film ansehen und in Temple Bar zu Mittag essen wollen, aber Finn meinte, wir müssten etwas anderes unternehmen: die Statue von Molly Malone ansehen. Das sei wichtig, sagte er. So wichtig, dass man es nicht verpassen dürfe. Ein ganz besonderer Tag. »Wir werden heute Geschichte schreiben, Pip«, versicherte er mir und drückte meine kleine, in einen Fäustling verpackte Hand.
Dieses Versprechen entlockte mir nur ein Naserümpfen. Geschichte war etwas für die Schule. Ich liebte Finn – er war groß, lustig und clever, und wenn er Geld übrig hatte, kaufte er mir Süßigkeiten – , aber ich hatte Molly schon tausendmal gesehen. Und ich kannte auch das ganze Lied über sie auswendig, jedes einzelne Wort.
Als wir uns der Statue näherten, sangen sie es alle. Aufgeregt und gleichzeitig ängstlich musterte ich die Menschen mit ihren geröteten Gesichtern. Finn grölte mit, und ich fiel ebenfalls in das Lied ein, auch wenn ich keine Ahnung hatte, warum wir alle sangen. Vielleicht war das ja eine Art Straßenfest.
Ich klammerte mich an Finns Hand, während er sich mit einigen Freunden vom Trinity College unterhielt. Sie waren alle grün angezogen und schwenkten große Schilder. Da ich schon ganz gut lesen konnte, verstand ich das meiste, was darauf stand, nur ein Wort war mir fremd: SCION . Es stand auf jedem Schild. Hoch über meinem Kopf glitten sie vorbei, eine Mischung aus Irisch und Englisch: MAYFIELD MUSS WEG ! ÉIRE GO BRÁCH ! DUBLIN SAGT NEIN ! Ich zupfte Finn am Ärmel.
»Finn, was ist hier los?«
»Gar nichts, Paige, sei mal kurz still … WEG MIT SCION ! SCION MUSS GEHEN ! WIR WOLLEN SCION IN DUBLIN NICHT SEHEN !«
Wir standen jetzt ganz dicht bei der Statue und wurden von der Menge herumgeschubst. Ich hatte Molly immer gemocht, sie hatte so ein liebes Gesicht. Aber heute sah sie anders aus. Irgendjemand hatte ihr einen Sack über den Kopf gestülpt und ihr einen Strick um den Hals gehängt. Mir stiegen Tränen in die Augen.
»Mir gefällt das nicht, Finn.«
» WEG MIT SCION ! SCION MUSS GEHEN ! WIR WOLLEN SCION IN DUBLIN NICHT SEHEN !«
»Ich will nach Hause.«
Finns Freundin Kay sah mich stirnrunzelnd an. Ich hatte sie immer gern gehabt, mit ihren wundervollen rötlich-braunen Locken, die wie Kupfer glänzten, und den blassen Armen, die voller Sommersprossen waren. Finn hatte ihr einen Claddagh-Ring geschenkt, den sie mit dem Herz in Richtung Körper trug. Heute war sie ganz in Schwarz gekleidet und hatte sich grüne, weiße und orange Streifen auf die Wangen gemalt.
»Hier könnte es brenzlig werden, Finn«, sagte sie. »Wäre es nicht besser, sie nach Hause zu bringen?« Als er nicht antwortete, versetzte sie ihm einen leichten Schlag. »Finn!«
»Was?«
»Bring Paige zurück nach Hause! Cleary hat
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