The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
nicht mitgekriegt? Arcturus Mesarthim hat noch nie einen Menschen in sein Quartier aufgenommen. Eigentlich hat er überhaupt noch nie irgendein Interesse an Menschen gezeigt. Traurig aber wahr: Hier ist das eine Riesenneuigkeit. So ist das eben, wenn es keine Klatschblätter gibt.«
»Und weißt du auch, warum er mich ausgewählt hat?«
»Ich würde schätzen, dass Nashira ein Auge auf dich geworfen hat. Er ist der Blutsgefährte, also ihr Partner. Wir gehen ihm möglichst aus dem Weg. Obwohl er diesen Turm sowieso nie verlässt.« Sie stellte ein Kochgeschirr auf den Ofen. »Ich werde dir etwas zu essen machen, bevor wir uns unterhalten. Bitte entschuldige, aber wir Clowns essen schon seit Jahren nicht mehr an Tischen.«
»Clowns?«
»So nennen die Jackenträger die Akrobaten. Sie mögen uns nicht besonders.«
Sie erhitzte ein wenig Suppe und füllte sie in eine Schüssel. Als ich ihr ein paar Blechringe dafür anbot, schüttelte sie den Kopf. »Geht aufs Haus.«
Vorsichtig nippte ich an der Brühe. Sie war geruch- und farblos und schmeckte ekelhaft, aber immerhin war sie warm. Liss beobachtete, wie ich die Schüssel auskratzte.
»Hier.« Sie reichte mir ein Stück hartes Brot. »Suppe mit Kruste, da gewöhnt man sich dran. Die meisten Hüter vergessen einfach, dass wir regelmäßig essen müssen.«
»Da drin gab es Fleisch.« Ich deutete in Richtung des Speiseraums.
»Aber nur anlässlich der Feiern zur XX . Knochenernte. Die Brühe habe ich vorhin aus dem Saft gekocht.« Sie nahm sich ebenfalls eine Schale voll. »Um nicht zu verhungern, müssen wir uns auf die Totaugen verlassen. Dieser ganze Kram stammt aus den Küchen«, erklärte sie und deutete mit dem Kinn auf den Ofen und das Kochgeschirr. »Eigentlich sollen sie nur für die Rotjacken kochen, aber wann immer es geht, schmuggeln sie etwas für uns raus. Seit eines der Mädchen erwischt wurde, sind sie allerdings nicht mehr so schnell bereit, uns zu helfen.«
»Was ist passiert?«
»Das Totauge wurde geschlagen. Der Seher, dem sie etwas gegeben hatte, wurde mit vier Tagen Schlafentzug bestraft. Er war völlig irre, als sie ihn wieder rausgelassen haben.«
Schlafentzug als Strafe, das war mir neu. Das Bewusstsein eines Sehers funktionierte auf zwei Ebenen: Leben und Tod. Das war ermüdend. Vier Tage lang wachgehalten zu werden, würde jeden Seher in den Wahnsinn treiben. »Und wer bringt die Nahrungsmittel in die Stadt?«
»Keine Ahnung. Vielleicht kommen sie per Bahn. Es gibt eine Verbindung zwischen London und Sheol I. Aber wie man sieht, weiß niemand, wo die Zugänge zu den Tunneln sind.« Sie schob ihre Füße dichter an den Ofen heran. »Was meinst du, wie lange die Hirnpest angehalten hat?«
»Ewigkeiten.«
»Es waren fünf Tage. Sie lassen die Neuen fünf Tage lang durch die Hölle gehen, bevor sie ihnen das Gegenmittel geben.«
»Warum?«
»Damit sie so schnell wie möglich begreifen, wo ihr Platz ist. Hier bist du nicht mehr als eine Nummer, bis du dir die Farben verdient hast.« Liss nahm sich noch etwas Suppe. »Du wohnst also in der Residenz Magdalen.«
»Ja.«
»Wahrscheinlich kannst du es schon nicht mehr hören, aber da hast du echt Glück gehabt. Magdalen gehört zu den Residenzen, in denen Menschen mit am sichersten sind.«
»Und wie viele gibt es?«
»Menschen?«
»Residenzen.«
»Ach so. Na ja, jede sogenannte Residenz ist ja wie ein kleines Viertel. Für Menschen gibt es sieben: Balliol, Corpus, Exeter, Merton, Oriel, Queens und Trinity. Nashira lebt in der Residenz der Protektoren, wo auch die Einführung stattgefunden hat. Dann gibt es noch das Haus, das liegt ein Stück weiter südlich, das Schloss – der hiesige Arrestblick – , und natürlich diesen Sumpf hier, genannt Hüttensiedlung. Diese Straße hier ist die Broad Street, die Parallelstraße der Magdalen Walk.«
»Und dahinter?«
»Verlassene Einöde, wir nennen sie das Niemandsland. Es ist überall vermint und voller Trittfallen.«
»Hat irgendwann mal jemand versucht, es zu durchqueren?«
»Ja.«
Ihre Schultern verkrampften sich. Langsam nahm ich noch einen Schluck Suppe.
»Wie war es im Tower?«
Überrascht sah ich hoch. »Ich war nicht im Tower.«
»Wurdest du mit einem goldenen Löffel im Mund geboren, oder was?« Als ich nur die Stirn runzelte, schüttelte Liss fassungslos den Kopf. »Sie sammeln die Seher für ihre Knochenernte über einen Zeitraum von zehn Jahren zusammen. Einige von ihnen sitzen also ein Jahrzehnt lang im Tower, bevor sie
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