The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
er hatte recht: Ich durfte das Bein nicht verlieren, sonst könnte ich nicht fliehen. Als er diesmal meinen Kopf stützte, öffnete ich die Lippen und trank aus dem Kelch. Die Flüssigkeit schmeckte bitter, nach Erde und Metall. Der Wächter nickte. »Gut.«
Es gelang mir, ihm einen hasserfüllten Blick zuzuwerfen, dessen Effekt allerdings durch Erleichterung geschmälert wurde, als es in meinem Bein anfing zu kribbeln. Ich trank das eklige Zeug bis auf den letzten Tropfen aus und wischte mir dann ohne das leiseste Zittern den Mund ab.
Wieder zog der Wächter die Decke zurück. Mein Oberschenkel nahm bereits wieder normale Formen an.
»Jetzt sind wir quitt«, flüsterte ich. Meine Kehle war immer noch trocken. »Mehr auch nicht. Ich habe dich geheilt und du mich.«
»Du hast mich nicht geheilt.«
Das brachte mich aus dem Konzept. »Was?«
»Ich war nie verletzt.«
»Erinnerst du dich denn nicht?«
»Das ist nie geschehen.«
Keine Sekunde glaubte ich, dass ich mir den Vorfall nur eingebildet hätte. Er trug immer noch lange Ärmel, sodass ich es nicht beweisen konnte, aber es war passiert. Daran würde sich auch nichts ändern, wenn er es leugnete.
»Dann muss ich mich da wohl geirrt haben«, sagte ich.
Unverwandt sah mir der Wächter ins Gesicht. In seiner Miene spiegelte sich Interesse – kaltes, leidenschaftsloses Interesse.
»Ja«, antwortete er schließlich, »du hast einen Fehler gemacht.«
Eine eindeutige Warnung.
Die Turmglocke meldete sich, und der Wächter warf einen Blick aus dem Fenster.
»Du darfst gehen. Um mit deiner Ausbildung zu beginnen, bist du heute nicht in der richtigen Verfassung, aber du solltest dir etwas zu essen beschaffen.« Er zeigte auf eine Urne auf dem Kaminsims. »Dort findest du weitere Numa. Nimm dir so viele, wie du benötigst.«
»Ich habe nichts zum Anziehen.«
»Das liegt daran, dass dir eine neue Uniform zusteht.« Er hielt mir eine rosa Tunika entgegen. »Herzlichen Glückwunsch, Paige. Du bist aufgestiegen.«
Das war das erste Mal, dass er mich bei meinem Namen nannte.
Kapitel Neun
A B W E C H S L U N G
Ich muss hier weg . Das war mein erster Gedanke, als ich in die eisige Kälte hinauslief. Sheol I sah noch genauso aus wie vorher, als ob Seb niemals diese Straßen betreten hätte. Doch ich sah anders aus. Statt der weißen trug ich nun eine rosafarbene Tunika. Der aufgestickte Anker an meiner Weste hatte dieselbe kränkliche Farbe. Ich war gezeichnet.
Noch eine Prüfung würde ich nicht überstehen, niemals. Wenn sie in der ersten schon ein Kind getötet hatten, was würden sie dann in der zweiten mit mir machen? Wie viel Blut würde noch vergossen werden, bis ich eine Rotjacke war? Ich musste von hier verschwinden. Irgendwo musste es einen Weg nach draußen geben, und wenn ich mich zwischen den Landminen hindurchschob. Alles war besser, als dieser Albtraum hier.
Als ich einen der Pfade durch die Hüttensiedlung nahm, mein Bein schwach und tonnenschwer, breitete sich langsam eine unbekannte Kälte in mir aus. Jedes Mal, wenn mich einer der Akrobaten ansah, ging eine Veränderung mit ihnen vor. Ihre Gesichter wurden ausdruckslos. Sie senkten die Köpfe. Meine Tunika war eine eindeutige Warnung: Abtrünniger, Verräter. Haltet euch von mir fern, ich bin eine Mörderin.
Aber ich war keine Mörderin. Nashira hatte Seb getötet, nicht ich, doch das wussten die Akrobaten nicht. Wahrscheinlich verabscheuten sie jeden, der keine Weißjacke mehr war. Ich hätte in Magdalen bleiben sollen. Aber dann wäre ich gezwungen gewesen, die Zeit mit dem Wächter zu verbringen, und seine Gegenwart hätte ich keine Minute länger ertragen. Also humpelte ich durch die klaustrophobisch engen Holztunnel. Ich musste Liss finden. Sie konnte mir helfen, diesem Albtraum zu entkommen. Es musste eine Möglichkeit geben.
»Paige?«
Sobald ich stehen blieb, begann mein Bein zu zittern. Das Laufen allein war schon unheimlich anstrengend. Liss spähte aus ihrem Zimmer hinaus. Als sie meine rosa Tunika bemerkte, verkrampfte sie sich sichtlich. »Liss … «, setzte ich an.
»Du hast bestanden«, stellte sie mit finsterer Miene fest.
»Ja, aber … «
»Und wer wurde dafür verhaftet?«
»Niemand.« Sie sah mich so zweifelnd an, dass ich es ihr sagen musste. »Sie haben versucht, mich dazu zu bringen, dass ich … Seb töte. Den Amaurotiker.« Ich starrte auf meine Füße. »Und jetzt ist er tot.«
Sie zuckte heftig zusammen.
»Alles klar«, sagte sie knapp. »Wir sehen uns
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