The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
irgendwann.«
»Liss, bitte hör mir zu, du weißt nicht … «
Ruckartig zog sie den Vorhang zu und ließ mich nicht einmal ausreden. Erschöpft lehnte ich mich an die Wand und rutschte daran herunter. Ich war keine von ihnen.
Seb . In Gedanken sagte ich seinen Namen und versuchte, seinen Geist aus dem Versteck hervorzulocken, in das sie ihn gejagt hatten, aber aus dem Æther kam keine Reaktion. Nicht das leiseste Zucken. Auch in Verbindung mit seinem Nachnamen tat sich nichts; mir musste ein Name fehlen. Der Junge, der so abhängig von mir gewesen war, so überzeugt davon, dass ich ihn retten könnte, war selbst nach seinem Tod noch ein Fremder für mich.
Der Vorhang schien mich böse anzustarren. Liss musste mich für den letzten Abschaum halten. Ich schloss die Augen und versuchte, das dumpfe Pochen in meinem Bein auszublenden. Vielleicht konnte ich mir einen anderen Rosaträger suchen und mit ihm Informationen austauschen … Aber das wollte ich nicht. Denen konnte ich nicht trauen, denn der Großteil von ihnen war tatsächlich zu Mördern geworden. Die meisten von denen hatten wirklich irgendjemanden hingehängt. Wenn ich mit jemandem sprechen wollte, der kein Verräter war, musste ich Liss beweisen, dass sie mir trauen konnte. Nachdem ich mich auf die Füße gestemmt hatte, was so anstrengend war, dass ich anschließend vor Schweiß triefte, machte ich mich auf den Weg zur Essensausgabe. Vielleicht traf ich dort ja auf Julian. Der würde zwar sicher auch nicht mit mir reden wollen, aber vielleicht gab er mir wenigstens eine Chance.
Gedämpftes Licht lenkte meinen Blick ab – ein Ofen. In einem winzigen Schuppen hockten ein paar Akrobaten, einige lagen zusammengesunken auf der Seite und fuchtelten in der Luft herum. Wieder Asternrauch. Eine von ihnen war Tilda, den Kopf auf ein Kissen gebettet, die weiße Tunika verdreckt und zerknittert wie ein benutztes Taschentuch. Suchend tastete ich in meinem Beutel nach der grünen Pille, die ich an mich genommen hatte. Vorsichtig, um mein Bein nicht zu überanstrengen, kniete ich mich neben sie.
»Tilda?«
Ein Auge öffnete sich halb. »Was’n los?«
»Ich habe die Tablette mitgebracht.«
»Warte. Bin noch voll drauf. Gib mir ’ne Minute, Süße. Oder zwei. Vielleicht fünf.« Sie rollte sich auf den Bauch, während ihr ganzer Körper von einem tonlosen Lachen geschüttelt wurde. »Meine Traumlandschaft ist ganz lila. Bist du echt?«
Ich wartete ab, damit die Wirkung der Astern sich verflüchtigen konnte. Eine geschlagene Minute lang lachte Tilda vor sich hin, irgendwann war sie knallrot im Gesicht. Die ungezügelte Wildheit ihrer Aura war deutlich zu spüren, sie zuckte unruhig unter dem Einfluss der Droge. Die anderen Seher machten keine Anstalten, aufzuwachen. Schließlich fuhr sich Tilda mit zitternden Händen übers Gesicht und nickte.
»Okay, ich bin vom Thron gestiegen. Wo ist diese Pille?«
Ich reichte sie ihr, woraufhin sie das kleine Ding von allen Seiten musterte. Prüfend strich sie mit dem Finger darüber, um ihre Konsistenz zu ertasten. Dann brach sie die Tablette in der Mitte durch und zerrieb die eine Hälfte zwischen den Fingern. Roch an dem Pulver und leckte daran.
»Deine Hüterin ist also wieder unterwegs«, stellte ich fest.
»Sie ist ständig unterwegs.« Damit gab sie mir die Überreste der Pille zurück. »Das sind irgendwelche Kräuter, aber welche kann ich dir nicht sagen.«
»Kennst du jemanden, der es könnte?«
»Es gibt hier so eine Art Pfandleihe. Der Typ, der mir die Astern verkauft hat, könnte es wissen. Das Passwort ist specchio .«
»Dann werde ich ihn fragen.« Ich stand auf. »Und dich wieder deinen Astern überlassen.«
»Danke. Wir sehen uns.«
Sofort sank sie auf ihr Kissen zurück. Ich fragte mich, was Suhail wohl tun würde, wenn er sie hier entdeckte.
Es dauerte eine Weile, bis ich die Pfandleihe gefunden hatte. In der Hüttensiedlung gab es jede Menge kleine Räume, in den meisten hockten zwei oder drei Leute zusammen. Sie verbrachten die Tage in den dicht gedrängten Hütten, kauerten sich um ihre Petroleumöfen und schliefen auf Laken, die nach Moder und Urin stanken. Zu essen gab es, was sie gerade finden konnten. Fanden sie nichts, verhungerten sie. Sie blieben aus zwei einfachen Gründen zusammen: Weil es erstens nicht genug Platz für alle gab und zweitens in der Stadt eisige Kälte herrschte. Es gab keine sanitären Anlagen und keine medizinische Versorgung, außer dem wenigen, was sie stehlen
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