The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
nach London, wo er sein Studium abschloss und nun für Sci SORS arbeitet, die größte Forschungseinrichtung der zentralen Parzelle. Es ist uns eine große Ehre, ihn heute bei uns begrüßen zu dürfen.« Durch die ersten Reihen lief ein aufgeregtes Murmeln. »Bitte heißt unseren Gastredner mit einem herzlichen Applaus willkommen: Dr. Nicklas Nygård.«
Ruckartig hob ich den Kopf. Das war er.
Nick.
Er hatte sich kein bisschen verändert, sondern war noch genauso, wie ich ihn in Erinnerung hatte: groß, sanfte Gesichtszüge, gut aussehend. Und immer noch jung, auch wenn man in seinem Blick die Spuren des hektischen Erwachsenenlebens sehen konnte. Er trug einen schwarzen Anzug mit roter Krawatte, wie alle Offiziellen von Scion. Die Haare waren mit Pomade zurückgekämmt, eine Mode, die wohl in Stockholm sehr populär war. Als er lächelte, setzten sich die Klassensprecherinnen in den ersten Reihen automatisch gerader hin.
»Guten Morgen, meine Damen.«
»Guten Morgen, Dr. Nygård.«
»Vielen Dank für die heutige Einladung.« Dieselben Hände, die meinen verletzten Arm genäht hatten, als ich neun war, rückten nun seine Vortragsunterlagen zurecht. Er sah mich direkt an und lächelte wieder. In meinem Brustkorb meldete sich ein nervöses Flattern. »Ich hoffe, dieser Vortrag erweist sich für Sie als aufschlussreich, ich bin Ihnen aber auch nicht böse, falls Sie einschlafen sollten.«
Gelächter. Die meisten Offiziellen waren nicht so witzig. Mein Blick saugte sich regelrecht an ihm fest. Sieben Jahre lang hatte ich mich gefragt, wo er wohl war, und nun war er direkt in meine Schule gekommen. Wie eine real gewordene Erinnerung. Er sprach über seine Forschungen auf dem Gebiet der Widernatürlichkeit und über seine Erfahrungen als Student in zwei verschiedenen Zitadellen von Scion. Dabei machte er immer wieder Scherze und forderte die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer, indem er ebenso viele Fragen stellte wie er beantwortete. Er brachte sogar die Direktorin zum Lächeln. Als es klingelte, lief ich als Erste hinaus und direkt in den Korridor, der hinter dem Vortragssaal entlangführte.
Ich musste ihn unbedingt finden. Seit sieben Jahren versuchte ich zu begreifen, was damals in diesem Feld passiert war. Da war kein Hund gewesen. Er war der Einzige, der mir sagen konnte, was diese kalten Narben in meiner Hand hinterlassen hatte. Der Einzige, der Antworten für mich hatte.
Hastig schob ich mich an einigen Achtklässlerinnen vorbei, die tratschend im Gang herumhingen. Da stand er, direkt vor dem Lehrerzimmer, und schüttelte der Direktorin die Hand. Als er mich entdeckte, leuchteten seine Augen auf.
»Hallo«, begrüßte er mich.
»Dr. Nygård«, brachte ich mühsam hervor. »Ihre Rede war … sehr inspirierend.«
»Vielen Dank.« Wieder dieses Lächeln, dazu sah er mich durchdringend an. Er wusste es. Er erinnerte sich. »Wie heißt du?«
Ja, er wusste es. Meine Hände begannen zu kribbeln.
»Das ist Paige Mahoney«, schaltete sich die Direktorin ein und legte eine deutliche Betonung auf meinen Nachnamen. Meinen äußerst irischen Nachnamen. Dabei musterte sie mich von oben bis unten, insbesondere die lockere Schleife und den offenen Blazer. »Du solltest jetzt in den Unterricht gehen, Paige. Miss Anville ist sehr enttäuscht über deine lückenhafte Anwesenheit in letzter Zeit.«
Mir stieg das Blut in den Kopf.
»Miss Anville wird Paige doch sicherlich für ein paar Minuten entbehren können.« Nick schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln. »Ich würde mich gerne noch ein wenig mit ihr unterhalten.«
»Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Dr. Nygård, aber Paige hat während der letzten Wochen viel Zeit bei der Schulschwester verbracht. Sie muss an all ihren Kursen teilnehmen.« Die Direktorin beugte sich zu ihm und senkte die Stimme. »Eine kleine Irin. Dieses Volk meint oft, selbst entscheiden zu können, wie viel Arbeit notwendig ist.«
Mein Gesichtsfeld schien sich zu verengen und in meinem Schädel baute sich enormer Druck auf, als würde er gleich explodieren. Ein feines, rotes Rinnsal lief aus der Nase der Direktorin.
»Sie bluten, Miss«, sagte ich.
»Was?« Als sie nach unten schaute, tropfte etwas davon auf ihre Bluse. »Ach, du lieber … was habe ich denn da gemacht?« Sie drückte eine Hand auf die Nase. »Steh nicht rum und gaffe, Paige. Hol mir ein Taschentuch.«
Nun pulsierte es in meinem Kopf, und ein grauer Schleier legte sich wie ein Netz vor meine Augen. Nick musterte mich
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