The Cutting
warmen, von der Sonne gewärmten Fleck. Ihr Laptop stand geöffnet auf dem Sofa, da, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Sie wollte danach greifen. Es gab noch so viel zu tun. Ihre Hand rührte sich nicht. Komisch, dachte sie und versuchte es noch einmal. Erst jetzt fiel ihr jäh wieder ein, wo sie war. Sie schlug die Augen auf. Es war dunkel im Zimmer. Mehr als dunkel. Vollkommen schwarz. Er musste gewusst haben, dass sie Angst vor der Dunkelheit hatte, musste gewusst haben, dass sie nachts, auch wenn sie schlief, immer eine kleine Lampe brennen ließ. Er musste es gewusst haben.
Die Panik, die sie ergriff, fühlte sich an wie ein lebendiges Wesen, sie breitete sich in ihrem Körper aus und kroch in ihre Kehle, um mit einem lauten Schrei hervorzubrechen, unkontrolliert und unkontrollierbar. Sie riss an ihren Fesseln, auf und ab, links und rechts, zerrte und zog so lange, bis sie das Blut an ihren Handgelenken und Knöcheln spürte. Doch es nützte alles nichts. Ganz egal, wie laut sie schrie oder wie verzweifelt sie sich abmühte, die Schwärze hüllte sie von allen Seiten ein.
13
Sonntag, 10.30 Uhr
Als McCabe an seinen Schreibtisch zurückkehrte, klingelte das Telefon. »Hier McCabe.«
»Detective McCabe?«, erklang die Stimme einer älteren Frau, heiser, wie bei einer Raucherin.
»Am Apparat. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Es geht um dieses Mädchen, das ermordet worden ist. Kann sein, dass ich sie gesehen habe.«
»Würden Sie mir Ihren Namen und Ihre Adresse verraten?«
Maggie saß an ihrem Platz, und er signalisierte ihr, dass sie mithören sollte.
»Annie Rafferty. Ich wohne in der Hackett Street, Hausnummer 22. Das ist an der East Side, eine Seitenstraße der Cumberland Avenue.«
»Ich kenne die Straße. Können Sie mir sagen, was Sie glauben gesehen zu haben?«
»Ich weiß, was ich gesehen habe. Ich werde zwar älter – im November schon fünfundsiebzig –, aber meine Augen sind immer noch gut. Allerdings schlafe ich nicht mehr so besonders. Ich habe immer diese Schmerzen in den Beinen. Wenn es besonders schlimm ist, stehe ich auf und setze mich ans Fenster. Na ja, und in dieser Nacht, in der das Mädchen verschwunden ist, da habe ich auch am Fenster gesessen und gehofft, dass die Schmerzen endlich weggehen. Da geht auf der anderen Straßenseite eine Tür auf, und ein Mädchen kommt raus. Sie hat genauso ausgesehen wie die, die sie im Fernsehen gezeigt haben. Na ja, jedenfalls steht sie da in der Tür und brüllt und schreit irgendjemanden an. Dann läuft sie wutschnaubend davon. Ich konnte sie gut sehen, und ich sage Ihnen: Das war diese kleine Dubois.«
»Wissen Sie noch, was sie alles geschrien hat?«
»Ach, Sie wissen schon, all diese Schimpfwörter. Ich bin bestimmt nicht prüde, und zu meiner Zeit habe ich mehr als einmal irgendwelche Idioten zusammengestaucht, dass ihnen Hören und Sehen vergangen ist, aber ich möchte nicht wiederholen, was diese Kleine alles in den Mund genommen hat. Nicht einmal gegenüber einem irischen Polizisten, der bestimmt alles schon mal gehört hat. Und die ganze Zeit steht sie da in ihrem winzigen Minirock, wackelt mit ihrem süßen Hintern und flucht wie ein Bierkutscher.«
»Wissen Sie noch, wie viel Uhr es war?«
»So ungefähr halb zwölf. Als ich aufgestanden bin, war es 23.15 Uhr, und es hat nicht lange gedauert, bis sie aufgetaucht ist.«
»Wer wohnt in diesem Haus auf der anderen Straßenseite?«
»Na, das ist ja das Merkwürdige. Ein netter junger Mann. Immer sehr freundlich. Räumt meine Eingangstreppe frei, wenn es geschneit hat, kauft für mich ein …«
»Mrs. Rafferty, wie heißt der Mann?«
»Er ist Lehrer drüben an der Highschool.«
»Wie heißt er? Bitte.«
»Ja … wie heißt er? Kenney. Tobin Kenney.«
»Bingo!« Maggies Mund formte diese Worte stumm und gleichzeitig laut, falls so etwas möglich ist. Sie lächelte und zeigte McCabe ihre nach oben gereckten Daumen.
»Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir kurz bei Ihnen vorbeischauen, Mrs. Rafferty?«
»Annie.«
»Was?«
»Nennen Sie mich Annie.«
»Also gut, dann Annie. Bitte, gehen Sie nicht weg, und sprechen Sie mit niemandem über diese Sache, bis wir bei Ihnen sind.«
Die Hackett Street war eine kurze Straße, lediglich zwei Häuserblocks lang, am nördlichen Rand von Munjoy Hill. Sie wurde von rund hundert Jahre alten Fachwerkhäusern gesäumt, die einst von Kaufleuten und Händlern mit ihren Familien bewohnt worden waren. Wie weite Teile des Viertels hatte
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