The Cutting
mit Lucas zusammen. Dann hockten die beiden in Lucas’ schmuddeliger Etagenwohnung im vierten Stock herum und rauchten Gras. Wie viele Patienten mochten sie wohl unter dem Messer gehabt haben, die brillanten jungen Chirurgen, zugedröhnt bis unter die Schädeldecke, in einem Zustand, in dem sie eigentlich niemals hätten operieren dürfen? Sie fragte sich, wie viele sie wohl umgebracht hatten.
Von ihrem Sessel aus konnte Hattie im letzten Licht der untergehenden Sonne auf einem Zweig des großen Ahornbaumes direkt vor ihrem Fenster ein Kardinalsvogel-Pärchen erkennen. Das Männchen plusterte sein feuerrotes Gefieder auf. Das unscheinbare bräunliche Weibchen saß schweigend daneben und pickte Insekten auf. Sie hatte diese Vögel noch nie so spät draußen gesehen. Schließlich flogen sie davon.
Sie dachte an die Begegnung mit Lucas im Winter 1989 in New York, bevor er weggegangen war. Das war über fünfzehn Jahre her. Die Stadt hatte nass und kalt unter einer Decke aus rußgeschwärztem Schneematsch gelegen. Das Restaurant, in dem sie verabredet waren, hatte neu eröffnet – eine von Dutzenden von Sushi-Bars, die überall im East Village aus dem Boden sprossen. Hattie war als Erste da gewesen, direkt aus dem Büro, und hatte einen Tisch für vier Personen ergattert. Das Lokal war voll, und weil es ihr peinlich war, die Kellner ständig wieder wegzuschicken, während sie auf die drei anderen wartete, trank sie zwei große Gin-Tonic. Schließlich kamen Philip und Lucas hereingestolpert, lachend und lärmend. Lucas hatte einen neuen Freund mitgebracht, einen Jungen mit einem spanischen Namen, Carlos oder Eduardo oder so. Er war Ensemble-Tänzer bei einer renommierten Tanzkompanie – dem Joffrey Ballet, glaubte sie sich zu erinnern. Er hatte wunderschöne dunkelbraune Haut, genau derselbe Farbton wie das Ledersofa im Arbeitszimmer ihres Vaters. Sie trank den letzten Schluck Gin, und dann bestellten sie Sake. Der Sake war warm und fühlte sich gut an in der Kehle, und so bestellten sie noch mehr davon. Lucas spielte den Angeber und bestellte ständig irgendwelche exotischen Sushi-Happen, die gar nicht auf der Karte standen. Ekelhaftes Zeug, dachte Hattie. Blutegel und Schnecken, soweit sie es beurteilen konnte – und Philip saß da und tat so, als würde er bei jedem einzelnen schleimigen Bissen dahinschmelzen, obwohl sie sich sicher war, dass er das Zeug noch mehr verabscheute als sie.
Danach gingen sie zusammen zu Lucas. Sie wusste noch, wie sie die vier steilen, engen Treppen hinaufgestiegen war. Im Flur roch es nach Müll und verfaultem Essen. Oben angelangt, fielen sie praktisch in das winzige Ein-Zimmer-Apartment mit seinen vier mal vier Metern, den rissigen Gipswänden und dem schmutzig braunen Teppichboden. Es wurde beherrscht von einem riesigen Bett. Wie hatten sie dieses verdammte Ding eigentlich jemals die Treppe hochgeschafft? Zwei kleine, schmutzige Fenster zeigten hinaus in einen Luftschacht. Von dem Bett abgesehen gab es hier nur noch einen mit lindgrünem Vinyl bezogenen Sessel, ein kleines Nachttischchen und zwei Lampen. Das meiste Licht spendete eine trübe Funzel an der Decke.
»Sehet!«, rief Lucas betrunken aus, ließ sich auf die Matratze plumpsen und zog den kichernden Jungen, Carlos oder Eduardo, zu sich herab. »Sehet die Felder Etons! Auf welchen der Bellum Sexualis so oft gefochten und für gewöhnlich gewonnen wird.«
Lucas fing an, den Jungen zu küssen, doch dieser machte sich los und sagte mit schwerer Zunge: »Ich will wassu trinken.«
»Erst wenn du dich ausgezogen hast«, erwiderte Lucas.
Hattie stand an die Tür gelehnt da und sah zu, wie Carlos oder Eduardo sich seiner Kleidung entledigte. Er besaß den Körper eines Tänzers, wunderschön, schlank und muskulös. Er warf sich für Lucas in Pose. »Und, kriege ich jetzt meinen Drink?«, sagte er neckisch. Sie hatte noch nie zuvor einen schwarzen Mann nackt gesehen. Sein Penis war sehr dunkel und nicht beschnitten. Ihr wurde bewusst, dass sie erwartet hatte, er wäre riesig, doch er war kaum größer als Philips. Trotzdem – sein ganzer Körper erregte sie auf eine Art und Weise, die sie bei Philip noch nie erlebt hatte.
Lucas stand auf und öffnete die beiden Flügel einer Jalousietür. Dahinter kam eine winzige Küche zum Vorschein, eigentlich eher eine Art Wandschrank. In der kleinen Spüle stapelte sich das schmutzige Geschirr. Er holte eine Flasche Wodka und ein Glas aus einem Hängeschrank und reichte beides dem
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