The Cutting
Dunkelheit hüllte den Raum ein.
Die Vorstellung, dass man ihre Gefühle für Philip jemals mit dem Wort »Liebe« hatte umschreiben können, kam ihr sehr weit entfernt und fremdartig vor. Sie dachte daran, wie sie sich kennengelernt hatten. Das war in einem Leseraum der Rockefeller Library gewesen, in seinem Abschlussjahr an der Brown University. Sie hatten sich drei Abende hintereinander gegenübergesessen, erst dann hatte er sie gefragt, ob sie mit ihm einen Kaffee trinken wollte. So ein ernsthafter junger Mann. Gut aussehend, sehr intensiv in sein Studium vertieft. Immer analysierte er, nahm die Dinge auseinander. Sehr klug. Ziemlich arrogant, aber immer sehr charmant.
Bilder aus ihrer Ehe, zerkratzt und ruckelig, zuckten durch Hatties Geist. Die große Hochzeit auf der Wiese vor dem Häuschen in Blue Hill. Freunde von der Brown und aus der Dana Hall School in leuchtend bunter Sommerkleidung. Philips Gesicht in Nahaufnahme, lächelnd, aufmerksam. Ein Kuss. Ein Trinkspruch. Ein fliegender Brautstrauß. Dann die dröhnende Abfahrt mit diesem unglaublichen Auto, das Philip betrunken und wie ein Wahnsinniger über die engen, kurvigen Landstraßen jagte. Der gelbe Lotus, ausgeliehen von Onkel Bish, dem reichen und verantwortungslosen kleinen Bruder ihrer Mutter.
Im Schnellvorlauf zwei Jahre weiter, in ihre winzige Zwei-Zimmer-Wohnung in Back Bay, eingerichtet zur einen Hälfte aus Heilsarmeebeständen und zur anderen aus den Erträgen ihrer spätnächtlichen Expeditionen durch die Straßen von Beacon Hill, wo sie irgendwelchen Sperrmüll einsammelten.
Jetzt verschwimmt das Bild. Das Licht wird weicher. Hattie sieht sich und Philip nackt neben dem Bett stehen. Sie lacht über Philip, der, endlich einmal, ausgelassen ist und ihr, als wäre er Graf Dracula, an die Gurgel will. Sie wehrt ihn ab, wendet sich um, um die gelbe Bettdecke zurückzuschlagen, ein Geschenk ihrer Mutter, damit sie keine Flecken bekommt. Philip packt sie. Vor lauter Lachen und vor lauter Lust fallen sie gemeinsam, wie ein Leib, auf das Laken und lieben sich. Erst einmal und dann noch einmal. Philip hatte sie damals doch wirklich geliebt, oder? Nicht einfach nur ejakuliert?
Im Schnellvorlauf drei Jahre weiter, zur Examensparty. Dasselbe winzige Apartment, vollgestopft mit Philips Studienfreunden. Man trinkt Wein und Bier. Raucht ein bisschen Gras. Um das Ende dieser vier zermürbenden Studienjahre zu feiern, das Erlangen des medizinischen Doktortitels. Lucas war auch da. Später im Verlauf der Party, als sie alle high waren, drängte Lucas sie in eine Ecke und küsste sie, schob ihr die Zunge in den Mund. Sie machte sich los. Sie war verheiratet. Das war Lucas egal. Er dachte immer, dass er das Recht hatte, alles zu bekommen, was er wollte. Sogar die Frauen seiner Freunde. Sogar die Frau seines besten Freundes. Der gut aussehende, talentierte Lucas. So brillant, sagten alle. Zu Großem auserkoren, sagten alle. Schon damals hatte er ständig Missbrauch getrieben. Mit Drogen. Mit Menschen. Nicht nur der gelegentliche Joint, den sie sich alle gegönnt hatten. Nein, Lucas war da sehr viel abenteuerlustiger gewesen, sehr viel erfindungsreicher. War immer an die Grenze gegangen. Bei Lucas hatte man immer das Gefühl, als ob gleich etwas passieren würde. Etwas Gefährliches. Darum hatte er eine solche Anziehungskraft auf Philip ausgeübt. Und auf Hattie auch. Dass Lucas in ihr Leben getreten war, war ein Anfang und ein Ende gewesen. Es hatte sie beide verändert.
Nach dem Examen der Tufts University hatten Philip und Lucas sich zusammen mit DeWitt Holland und Matthew Wilcox am Bellevue Hospital in New York als Assistenzärzte in der Chirurgie beworben und waren alle vier angenommen worden. Vier Freunde, die Asklepios-Gruppe, vereint für vier weitere Jahre. Sie und Philip hatten Glück und bekamen eine Sozialwohnung für verheiratete Assistenzärzte in einem der Wolkenkratzer der New York University, ein kleines Stück südlich des Washington Square. Lucas wohnte weit weg auf der East Side, in einer dieser Straßen, die nicht nach Zahlen, sondern nach Buchstaben benannt waren. Avenue A oder Avenue B. Sie wusste es nicht mehr genau. Der langsame Wandel der Gegend vom Slum zur Künstlerenklave hatte bereits eingesetzt.
Es waren einsame Jahre gewesen. Philip verbrachte den größten Teil seiner Zeit in der Klinik, arbeitete bis zur Erschöpfung, schlief ein paar Stunden, ging wieder zurück und arbeitete noch mehr. Wenn er nicht arbeitete, war er oft
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