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The Cutting

The Cutting

Titel: The Cutting Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Hayman
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wusste, dass das niemals geschehen würde. Jetzt stand er allein in einer ruhigen Ecke und betrachtete die Gesichter der hereinströmenden Trauergemeinde. Er fühlte sich unsicher in seinem dunkelgrauen Nadelstreifenanzug, den er früher einmal für ziemlich schick gehalten hatte. Es war sein einziger, und er trug ihn heute zum ersten Mal seit seinem Weggang aus New York. Er hatte den Bauch einziehen müssen, um die Hose überhaupt zuzubekommen.
    Die Orgel spielte ein klangvolles, trauriges Stück. Menschen schoben sich in die Bänke, drängten sich in jede Ecke der großen Kirche. Der Bürgermeister mit dem unpassenden Namen Short hatte sich weit nach vorne gesetzt, direkt hinter Katies Familie. Der Stadtrat traf geschlossen ein. Alle trugen, wie McCabe, einen grauen oder blauen Anzug. Ein paar Abgeordnete aus dem Parlament von Maine und ein paar lokale Berühmtheiten waren auch da. Chief Shockley hatte sich in seine Ausgehuniform geworfen. Neben ihm kam Bill Fortier dahergeschlurft. Zu McCabes Überraschung war auch Terri Mirabito erschienen. Sie bemerkte ihn nicht. Er hatte sie noch nie zuvor auf einer Beerdigung gesehen.
    Überall sah man dicht aneinandergedrängte Gruppen von Lehrern und Lehrerinnen sowie Jugendlichen. Viele ließen ihren Tränen freien Lauf. McCabe erkannte Katies Freund Ronnie Sobel. Er hatte ein Foto von ihm in der Ermittlungsakte gesehen. Tobin Kenney kam alleine und saß auch alleine. Eine junge Frau, die neben ein paar Schülern saß – vermutlich ebenfalls eine Lehrerin, dachte McCabe –, winkte Kenney zu und deutete auf einen freien Platz neben sich. Er schüttelte den Kopf und blieb sitzen. Achselzuckend wandte sie sich ab.
    McCabe besah sich die Gesichter der Menschen, registrierte diejenigen, die er kannte, musterte diejenigen, die er nicht kannte, und speicherte die Bilder auf der Festplatte in seinem Kopf ab. Ob einer von ihnen der Mörder war? Man konnte es nicht sagen.
    Der Bischof von Maine, Hochwürden Leo F. Conroy, Doktor der Theologie sowie Lizentiat der Theologie, hielt die Totenmesse ab. Er verbeugte sich vor Katies Sarg am Eingang der Kathedrale. McCabe war überzeugt, dass die elegante Mahagonikiste mehr gekostet hatte, als die Ceglias sich leisten konnten. Menschen, die ihr Kind zu Grabe tragen müssen, geben eigentlich immer zu viel aus. Der Bischof bespritzte den Sarg mit Weihwasser und stimmte das De profundis an: »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.«
    Dann brachten die Sargträger – sechs von Katies Mitschülern – den Sarg nach vorne und stellten ihn unmittelbar vor dem Altarraum ab. In diesem Augenblick bemerkte McCabe die Frau. Sie lehnte an der gegenüberliegenden Wand. Auf ihrem Gesicht lag diagonal ein dunkler Schatten. Er starrte die regungslose Gestalt so lange an, bis er sich sicher war. Ja. Das war die Frau, die er in der Exchange Street verfolgt und aus den Augen verloren hatte.
    Sie spürte seinen Blick, drehte den Kopf und schaute ihm direkt in die Augen. Er nickte ihr kaum wahrnehmbar zu. Sie erwiderte sein Nicken. Er blickte sich um. Niemand beachtete ihn. Er bewegte sich auf sie zu. Die Gemeinde war jetzt aufgestanden und sang einen Choral. Sie sah ihn näher kommen und blieb stehen. Der Choral war zu Ende, und vom Altar her hallte eine Stimme durch die ansonsten stille Kathedrale. »Denn wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott auch die, die entschlafen sind, durch Jesus mit ihm einherführen.«
    McCabe stellte sich neben die Frau. »Wer sind Sie?«
    »Ich kann hier nicht mit Ihnen reden.« Sie sprach mit Akzent. Französisch, dachte McCabe.
    »Wo dann?«
    »Ich melde mich. Bitte folgen Sie mir nicht.«
    »Wie kann ich sicher sein, dass Sie sich melden?«
    »Das können Sie nicht. Sie müssen mir vertrauen.«
    »Wie heißen Sie?«, lautete seine nächste Frage, aber da war sie bereits auf dem Weg nach draußen und hörte ihn nicht mehr. Er wollte ihr nachgehen, überlegte es sich aber anders. Er würde darauf warten, dass sie ihn anrief.
    McCabe prägte sich weiter die Gesichter in der Kirche ein. Aber selbst wenn er genau gewusst hätte, wo er suchen sollte, selbst dann hätte er den groß gewachsenen, dunkelhaarigen Mann nicht bemerkt, der durch eine kleine Öffnung hoch über dem Altar zu ihm hinunterstarrte und gedankenverloren ein Skalpell über seinen Handrücken gleiten ließ, wobei die messerscharfe Klinge ein Dutzend dunkle Härchen abrasierte.
    »Lasset uns beten.«

22
    Montag, 16.00 Uhr
     
    Immer

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